Predigt von Pfarrerin Irmhild Ohlwein am Sonntag „Misericordias Domini“ über Psalm 23

Gnade sei mit euch, und viele Barmherzigkeit und Frieden und Liebe. Amen

Hier gibt es die Liturgie zum Nachlesen.

Liebe Gemeinde,

im Tal der Coronakrise, in dem wir jetzt stecken, bekommen die Worte der Bibel und der Glaubenszeugnisse einen ganz besonderen Klang.
So auch der Name dieses 2. Sonntages nach Ostern: „Misericordias Domini“. „Barmherzigkeit Gottes“ heißt das, oder genauer übersetzt „Des Herren Herz für die Nöte“.
Und die tun sich gerade um uns herum auf wie hohe Wände: die Gefahr einer lebens-bedrohlichen Virusinfektion, äußere und innere Einsamkeiten, Hilflosigkeit, Existenzsorgen, Überlastungen von Systemen und Menschen, Flüchlingsströme aus Krisengebieten, die Unkalkulierbarkeit der Bedrohung.
Könnte Gott sich nicht erbarmen und diesen Nöten ein Ende setzen, hier und an den vielen Enden der Erde? Wir kriegen ja gerade zu spüren: wir haben das Leben zuletzt nicht sicher in den Händen.
Viele Menschen fragen zur Zeit auch ganz neu nach Gott. Die Gottesdienste und geistlichen Texte, die verteilt oder über Internet und Fernsehen veröffentlicht werden, sind sehr nachgefragt.

„Misericordias Domini“ oder „Des Herren Herz für die Nöte“. Der heutige und eben so genannte Sonntag steht für eine gute Botschaft an uns: Gott hat ein Herz für die Nöte. Er ist bei uns und führt uns in aller Gefahr. So, wie wir das im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu erkennen können.
Das Leitbild dafür ist das des „guten Hirten“, das in den unterschiedlichen Texten dieses Sonntages ausgemalt ist.  Der bekannteste ist sicher der 23. Psalm, den viele gerade der Älteren noch auswendig kennen. Und manchem wird er gerade in diesen Tagen in den Sinn und über die Lippen kommen:

Der Herr ist mein Hirte,
       mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue
       und führet mich zum frischen Wasser.
Er erquicket meine Seele;
      er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.
Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück;
       denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.
Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.
       Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang,
       und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar. 

Welch schöne Bilder von einem Leben in Gottes Schutz und Geleit: alles ist da, ein Leben in Frieden und Licht, Stärkung, Orientierung, Trost, Zugehörigkeit, Wertschätzung, Güte.
Das Böse weicht zur Seite, Gott selber schafft mir Bahn, trägt mich, wenn ich nicht mehr kann.
Ich erinnere mich sehr gut an das Kinderlied: „Weil ich Jesu Schäflein bin“ und an mein Bilderbuch, in dem Jesus ein kleines Schaf auf dem Arm trägt. Ganz früh und tief ist dieses Bedürfnis in uns, geschützt zu werden, weil wir so auf die Welt kommen und immer wieder die Erfahrung machen, zuletzt schutzlos und angreifbar sein zu können.
Wie auch in dieser Zeit nicht nur eine und einer allein, sondern eine ganze Gesellschaft, ja die ganze Welt Schutzlosigkeit erleben.
Da tut es gut, Gott an seiner Seite zu wissen und im Vertrauen auf ihn Ruhe und Zuversicht zu finden.
Und da tut es gut, ja ist es mitunter lebenswichtig, auch ganz konkret Hilfe zu erfahren durch andere, die für einen sorgen, so wie das gerade in vielfältigster Weise geschieht, auch in dieser Gemeinde: Leute rufen andere an, die alleine zuhause sein müssen, oder versorgen sie mit Arznei und Lebensmitteln.
Da steht plötzlich ein Kuchen vor der Tür der alleinerziehenden Mutter. Und am Gaben-Zaun kann sich ein Mittelloser etwas zum Essen mitnehmen. Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger bleiben hierzulande und in den Katastrophengebieten für ihre Leute da. Die Verantwortlichen in unserer Stadt und dem ganzen Land überlegen Schritte zum Wohl der Bevölkerung. Gebete und Predigten werden über Internet oder zu Fuß zu den Leuten gebracht. Im Fenster beim Nachbarhaus hängt ein Bild vom Regenbogen mit den Worten: Alles wird gut!

„Hirten füreinander zu sein“, so hat ein Theologe einmal den Auftrag und die Bedeutung der Christen benannt.
In einem Gebet aus dem 14. Jahrhundert, wird das so beschrieben:

„Christus hat keine Hände, nur unsere Hände,
um seine Arbeit zu tun.
Er hat keine Füße, nur unsere Füße,
um Menschen auf seinen Weg zu führen.
Christus hat keine Lippen, nur unsere Lippen,
um Menschen von ihm zu erzählen.
Er hat keine Hilfe, nur unsere Hilfe,
um Menschen auf seine Seite zu bringen.“

Dies Gebet wird mit einem Fragment eines „Corpus Christi“ aus spätgotischer Zeit aus dem Kloster Volkenroda in Verbindung gebracht. Die Figur vom Kreuz hatte keine Hände mehr und nur Fragmente von Füßen. Und so ist es ja auch, dass Christus weiterwirken kann, nämlich in und mit dem Tun von unsereinem.

Die morgen vor 17 Jahren, am 27. April 2003, verstorbene Hamburger Theologin Dorothee Sölle, sah darin gerade die sozusagen „erwachsene“ Form des Glaubens an Gott: „Vielmehr sind wir selbst es, die von Gott für das von uns Erbetene in die Pflicht genommen werden“.
„…Der Schrei, den wir nicht hören, wird nicht gehört, das Unglück, das wir nicht wahrnehmen, wird nicht wahrgenommen.“
Dorothee Sölle verstand dies sogar politisch. Die Christinnen und Christen haben eine reale Verantwortung für die Befreiung und Rettung von Menschen aus Not, Unfrieden und Ungerechtigkeit. Sie sind dafür nötig, damit wirklich wird, was wir von Gott erbitten.
Die von ihr in den 60er und 70er Jahren begründete Aktion des „Politischen Nachtgebet“ versuchte, in dieser Weise den Glauben an Gott in menschliche Handlungsweisen zu übersetzen.

„Christus hat keine Hände, nur unsere Hände,
um seine Arbeit zu tun.
Er hat keine Füße, nur unsere Füße,
um Menschen auf seinen Weg zu führen.
Christus hat keine Lippen, nur unsere Lippen,
um Menschen von ihm zu erzählen.
Er hat keine Hilfe, nur unsere Hilfe,
um Menschen auf seine Seite zu bringen.“

Ich meine, dass Gottes Handeln nicht vollständig in menschlichem Tun aufgehen wird und kann. Zu unerlöst und verwickelt in uns selbst sind wir. Gleitet auch von eigenen Interessen, persönlichen Vorstellungen von Recht und Frieden. Manches können wir schaffen, aber unseren Möglichkeiten sind Grenzen gesetzt. Und es gibt ja auch die Erfahrung, dass er noch mehr gibt, als was vor Augen ist und was wir in den Händen haben. Dass wir Hilfe erfahren von ganz anderswo her, etwas erleben „zwischen Himmel und Erde“.
Doch wir wirken gewiss mit daran, dass Bewahrung geschieht, wie sie Gott für seine Menschen und Welt will. Ja, wir haben gewissermaßen die Ehre, das zu tun.

„Christus hat keine Hände, nur unsere Hände, um seine Arbeit zu tun.
Unsere Hände – das sind eben auch meine eigenen. Sie können Hilfe schenken, Anderen und mir selbst. Denn das schwingt zugleich mit in diesem Gedanken. Ich kann unter Umständen selber etwas dazu beitragen, dass ich durchs tiefe Tal komme, um im Bild des 23. Psalms zu bleiben. Ich kann auch selber Hirtin und Hirte für mich sein.
Oder, wie jemand sagte: „Ich muss oder will vielleicht auch gar nicht allein ´Schaf` sein, das geführt und versorgt wird. Ich kann ja mal selbst danach sehen, dass mir nichts mangelt, dass ich mich erhole, stärke und auf den Beinen bleibe. Und das zu merken, stärkt mich ebenso.“

Interessanterweise wechselt im Psalm 23 dann auch das Bild vom geführten Weidetier zu dem eines erwachsenen Menschen, der am Tisch seinen Feinden gegenübersitzt, dessen Haupt wie das eines Königs von Gott gesalbt wird, dem voll eingegossen wird und der im Hause Gottes wohnt:

 Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.
       Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang,
       und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.

Und es ist ja auch so: Wir sind feindlichen Dingen und Ereignissen ausgesetzt, können diese aber in den Blick nehmen und uns darauf einstellen.
Wir haben ein Haupt, unsere Persönlichkeit und individuellen Fähigkeiten, die wir segensreich gebrauchen können. Und wir haben Hände, die handeln und immer auch empfangen werden.

So gelangen wir in Sicherheit – durch den Beistand Gottes, an den Händen Anderer und auf eigenen Beinen.
Mal ist es notwendig, sich anderen anvertrauen zu können, und dann wieder kann ich selber etwas tun, umgekehrt für jemanden anderen oder für mich selbst. „Regression“ und „Progression“ nennen das die Psychologen, Zurücktreten und Vorangehen. Beides ist wichtig, um durch eine schwere Zeit zu kommen.
Der 23. Psalm erzählt in seinen Bildern davon. Ja diese werden uns selbst zum Weg durchs tiefe Tal. Jede und jeder von uns wird jetzt eigene, kleinere oder größere Schritte darin machen, und am Ende hindurchkommen.

Amen

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus unserem Herrn.  Amen