Predigt in der Christnacht zum Nachlesen

Predigt in der Christnacht von Prädikant Lutz Geydan und Pfr. Till Jansen zum Nachlesen:

Gott, gib uns deinen heiligen Geist, damit wir dich hören und verstehen – Amen

So verhält es sich auch bei uns. Solange wir unmündig wie Kinder waren, wurden wir von den Elementen dieser Welt beherrscht. Aber als die Zeit gekommen war, sandte Gott sein Sohn. Er wurde von einer Frau geboren und war dem Gesetz unterstellt. Dadurch wollte Gott alle freikaufen, die dem Gesetz unterworfen waren. Auf diese Weise wollte Gott uns als seine Kinder annehmen. Weil ihr nun seine Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt.  Der ruft: „Abba, Vater!“ Du bist also kein Sklave mehr, sondern ein mündiges Kind. Wenn du aber Kind bist, dann bist du auch Erbe. Dazu hat Gott sich bestimmt. Amen

Liebe Schwestern und Brüder,

Gott hat seinen Sohn gesandt, so haben wir es gerade gehört. Er wurde von einer Frau geboren – ich wundere mich an der Stelle über den Predigttext, hier in der BasisBibel. Natürlich, von einer Frau.

Wir haben eben zur Eröffnung des Gottesdienstes das Magnificat gehört. Ein aufregendes, wunderschönes Gebet über den Glauben an Gott. Ein Kollege aus Polen, ein Arbeiter, der hat mal zu mir gesagt: „Lutz, Maria ist eine von uns. Sie ist aus dem Volk. Sie trägt keine teuren Kleider in großen Häusern. Gott hat sich eine Frau, eine junge Frau, aus dem Volk gesucht. Die Mutter von Jesus, ihre Freunde, ihre Familie, ihre Eltern, Marias Umfeld, ihr Dorf – die mussten jeden Tag aufs Neue ums tägliche Brot kämpfen.

Maria ist eine junge Frau, als sie von ihrer Schwangerschaft erfährt. Es braucht nicht viel Vorstellungskraft um zu ahnen, wie Nachbarn, Familie und Eltern auf die Schwangerschaft reagiert haben.

Maria, die schon mit Josef verlobt war, ist schwanger. Das Gesetz, die Tora, nach der das ganze Dorf, in dem Maria gelebt hat, mit Sicherheit sehr streng gelebt hat, ist da ganz eindeutig.

Eine Frau, die bei der Hochzeit nicht mehr Jungfrau ist, soll bestraft werden. So steht es im 5. Buch Mose, im Gesetz. Ja klar, Maria sagt, dass sie noch mit keinem Mann geschlafen hat. Aber glaubt ihr das jemand? Glaubt das die Familie? Glaubt Josef seiner Verlobten?

Versetzen wir uns einmal in die Lage der jungen Frau, Maria. Denken wir uns die Reaktion der Familie. In ein von Armut, Arbeit, Unterdrückung durch die Römer und dem Gesetz der Tora geprägten Leben passiert das.

Die Eltern fragen sich: „Wie bringen wir das Kind durch? Was wird das Dorf sagen? Was wird mit Maria geschehen? Werden die Männer des Dorfes sie steinigen, wie es im 5. Buch Mose steht? Was für eine Sünde, was für eine Schande.“

Liebe Gemeinde, was mutet Gott Maria da zu? Ja, vor Gott ist sie rein und sie nimmt ihre Aufgabe an. Aber in der Welt, in ihrem Dorf, hat sie es extrem schwer. Wir können sicher sein, das ist eine sehr, sehr bedrohliche Zeit für sie. In den Augen des Dorfes, hat sie gegen das Gesetz verstoßen.

Ein Gesetz, das viel von Liebe geprägt ist, Zuneigung und der ewigen Zusage Gottes zu seinem Volk. Ein Gesetz, dass auch Sicherheit gibt, wie sich die Menschen im Leben verhalten, oder begegnen sollen. So zum Beispiel: du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Oder auch, du sollst nicht töten, oder die Ehe brechen.

Maria ist in eine unfassbar schwierige Situation geraten.

Und – sie bewältigt diese Situation. Es ist wie ein Wunder. Ihr Mann, Josef, nimmt sie an. Sie gehen gemeinsam ihren Weg als Kinder Gottes. Jesus wird geboren.

In einem Stall, in ärmlichen Verhältnissen. Auch Jesus, so würde der Arbeiter aus Polen wahrscheinlich sagen, ist einer aus dem Volk.

Und Marias Sohn, Jesus, der Sohn Gottes, er wird die Welt verändern. Ja, auch er ist unter das Gesetz gestellt. Aber er holt uns raus aus der Bequemlichkeit und Starre des Gesetzes.

Er legt das Gesetz nicht beliebig aus, im Gegenteil. Aber er stellt die Liebe Gottes, die Solidarität und die Barmherzigkeit in den Vordergrund. Damit legt er das Gesetz radikaler aus. Er wird nicht einfach urteilen. Jesus sagt: Ich bin nicht gekommen, um das Gesetz und die Propheten außer Kraft zu setzen. Ich bin gekommen, um sie zu erfüllen. Wir sind nicht Sklaven des Gesetzes. Wir sind mündige Kinder Gottes. Wir haben die Freiheit, Jesus zu folgen und der jungen Frau Maria mit Liebe zu begegnen.

Wir sind mündige Kinder Gottes. Wir haben Freiheit, aber diese Freiheit hat auch eine komplizierte und eine schwierige Seite.Paulus schreibt, dass wir keine Sklaven mehr sind. Und Paulus meint es nicht so, dass das Gesetz an sich versklaven würde. Das betont er immer wieder. Aber das Gesetz birgt in sich die Versuchung, sich buchstäblich an ihm auszurichten. Wie verhalte ich mich richtig in einer bestimmten Situation? Ich schlage nach, lese nach und handle so, wie es da steht. Wenn Maria das Gesetz bricht, muss so und  so mit ihr verfahren werden: Das ist unter Umständen das einfachste, natürlich nicht für Maria, aber für die Gemeinschaft: Die Störung im Zusammenleben ist behoben (zumindest formal), für andere ist es eine Warnung, die restliche Gruppe wird zusammengeschweißt und niemand muss persönlich dafür Verantwortung tragen, denn alle haben nur nach dem Gesetz gehandelt. Das sind die Vorzüge des Sklavendaseins. Es hat auch seinen Sinn, dass es so ist: Wer Gesetze des Zusammenlebens aufstellt, muss natürlich auch wollen, dass sie ein hohes Maß an Verbindlichkeit haben. Regeln, an die sich niemand hält, sind mindestens problematisch – wer weiß das nicht. Und doch ist es die buchstäbliche Gesetzlichkeit, gegen die Paulus sich in diesem Brief an die Galater vehement wendet. Ihr seid keine Sklaven mehr, die einfach tun, was Ihnen gesagt ist, ohne selbst Verantwortung zu tragen. Ihr seid mündige Kinder!

Auch die Mündigen brauchen Orientierung und Regeln. Dafür haben wir das Gesetz. Auch als Christen haben wir das. Aber wir müssen mit dem Gesetz umgehen wie mündige Kinder. Der junge Erwachsene Jesus praktiziert diesen Umgang mit dem Gesetz und eckt damit permanent an. Er lässt die Jünger am Sabbat auf dem Feld ernten, weil sie Hunger haben, was den Zorn der Gesetzesgelehrten erregt. „Der Sabbat ist für den Menschen da und nicht der Mensch für den Sabbat“ ist seine den Buchstaben entblößende und die Ankläger beschämende Antwort. Die Frage, ob man am Sabbat heilen darf, wie er es tut, muss man dann eigentlich gar nicht mehr stellen. Natürlich darf man, man muss geradezu.

„Das Gesetz heilig, und das Gebot ist heilig, gerecht und gut“ sagt Paulus und ergänzt: „wenn man es richtig gebraucht.“

Die Erfüllung des Gesetzes, die Jesus für sich in Anspruch nimmt und die auch uns nach wie vor aufgegeben ist, wird verdichtet in einem Satz, den Jesus antwortet, als er nach dem höchsten Gebot gefragt wird: „Liebe Gott und liebe deinen Nächsten, wie dich selbst – Das ist das ganze Gesetz und die Propheten.“

Was bedeutet es also nun, mündig zu sein? Dem Gesetz, das mir vermeintlich so klare Anweisungen geben könnte, kann ich die Verantwortung für mein Handeln nicht in die Schuhe schieben. Die Verantwortung bleibt bei mir.

Ich stehe nicht über dem Gesetz, aber das Gesetz steht auch nicht über mir. Ich muss es befragen, kritisieren, darüber hinwegsehen und es beachten. Ich muss erahnen, was über dem Gesetz liegt und hinter ihm und ihm zugrunde. Jedes Mal, wenn ich handle. Ununterbrochen also. Das ist aber ein Anspruch, den wir nicht erfüllen können. Das übersteigt unser Verstehen und unsere Einsicht.

Realistisch betrachtet, ist das Gesetz in sich sowieso nie eindeutig und wir müssten sowieso immer selber entscheiden. Realistisch gesehen kann das Gesetz nie Verantwortung übernehmen für das, was ich tue.

Wir tun aber gerne so. Wir lassen uns oftmals gerne versklaven, weil es einfacher ist, weil wir vermeintlich weniger Fehler machen oder wenigstens nicht unsere eigenen. Wenn wir wirklich hinspüren, dann ahnen wir zumindest die Grenzen unserer Möglichkeiten und unserer Einsicht.

Uns bleibt es aber nicht erspart, Fehler zu machen, falsch zu urteilen, falsch zu entscheiden. Wir tun das, sogar wider besseres Wissen. Daher ist für mich der Geist Gottes ein echter Trost, weil er uns rufen lässt: Abba, Vater oder auch Mutter.

Wir sind mündig, und damit voll verantwortlich, aber wir sind zugleich Kinder. Den Sklaven konnte man bei Fehlern entlassen, sich seiner entledigen, ihn weiterverkaufen wie Ware. Ein Kind bleibt ein Kind, auch wenn es mündig ist, auch wenn es Fehler macht. Im besten Fall bleibt es ein geliebtes Kind, selbst dann noch als das eigene Kind angesehen, wenn es sich selbst abwendet.

In der Erzählung von Jesu Geburt ist das alles schon da. Gott selbst lässt Jesus durch eine Frau in die Welt gebären, die unter dem Buchstaben des Gesetzes schuldig wäre, er lässt aber auch Maria in der Gemeinschaft bestehen, weil ihre Familie bei ihr bleibt, weil Josef bei ihr bleibt, weil die Hirten sehen und verstehen, was mit dieser Geburt in der Welt in Gang gesetzt wird.

Und dieser Jesus, der unter dem Gesetz leidet und stirbt, der es in Gottes- und Menschenliebe erfüllt, der dem Gesetz stirbt und als Sohn Leben verheißt, verkündet und bekräftigt für uns die mündige Gotteskindschaft: Mit aller Verantwortung und aller Freiheit, in Liebe zu Gott und den Menschen zu leben.

Weil wir nicht Sklaven sein sollen, die Gott fürchten, sondern geliebte Kinder rufen uns die Engel zu: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.

Amen