Gottesdienst vom 21. März 2021 (Judica) zum Lesen und Hören

Unten können Sie die Predigt von Pfr. Till Jansen lesen.

Hier können Sie den Gottesdienst mit Pfr. Till Jansen und Kantor Juergen Bonn anhören:

Eingangslitrgie
Predigt
Ausgangsliturgie

Predigt

über Hiob 19, 19-27 am Sonntag Judika (21.03.2021) von Pfr. Till Jansen, Ev. Südstadtgemeinde Kassel

Mein Gott, mein Gott warum hast Du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe. 

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? 

Jesu Ruf am Kreuz – er ist nicht der erste, der so ruft. Jesus greift zurück auf dieses alte Gebet aus Psalm 22. Nur diesen einen Satz. Warum hast du mich verlassen? Der ganze Rest des Gebets, das Versprechen, Gott wieder zu loben, das Vertrauen in Gottes Hilfe: Das alles betet er nicht mit. Vielleicht denkt er es mit, vielleicht ist es mit gemeint, ja vielleicht. Ausgesprochen wird es nicht. Und das zumindest bedeutet etwas. 

Jesus ist nicht der erste, der diesen Satz betet. 

Er ist auch nicht der letzte. 

Auch wir beten diesen Satz zuweilen mit: Warum, Gott, hast du uns verlassen? 

Vielleicht haben Sie am vergangenen Sonntag den Fernsehfilm „Sabine“, den Krimi aus der Reihe Polizeiruf 110 gesehen: Sabine, eine Frau, die alles verliert, die sich vor Kummer, Anstrengung und Ausweglosigkeit kaum mehr wachhalten kann, die ihren Sohn über alles liebt und daran verzweifelt, dass auch ihm keine Chance gegeben wird, die täglich mithört, wie der Nachbar seine Frau schlägt, die mit Schnittchen und Kaffee den Großinvestor ihrer Firma bedient, der sich mit dem kapitalistischen Lauf der Dinge arrangiert hat und froh ist, zur Gewinnerseite zu gehören, die miterlebt, wie andere in der Chefetage etwas nachdenklicher sind, aber sich nicht durchsetzen können und vielleicht auch doch nicht wollen … diese Frau, die vor lauter Ausweglosigkeit nichts anderes mehr anstreben kann, als die große Katastrophe, in der sie selbst mit untergeht, ihren Sohn zurücklässt in Perspektivlosigkeit. Mein Gott, warum hast du sie verlassen? Und mit ihr die vielen Menschen, denen es genau so geht?

Dabei kommt der Film ganz ohne Corona aus. Am Ende des Films wurde eine telefonischen Hilfehotline eingeblendet für Menschen, denen es genau so geht wie Sabine. 

Zu dem ganzen Elend, das wir sowieso schon in unserer Welt haben, kommt Corona noch dazu und verschlimmert alles: Noch weniger Perspektive, noch weniger Bildung, weniger Freundschaft, weniger Netzwerke, die auffangen und helfen, weniger Freunde, die begleiten und aufrichten, weniger Umarmung und Nähe, weniger Zukunft. 

Wieviele Menschen verzweifeln daran allein in unserem Land und in unserer Stadt und rufen: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? 

Die Ratlosigkeit und Hilflosigkeit wächst. 

Am Freitag abend zogen sogenannte Querdenker mit Autos an unserer Markuskirche vorbei, hupend, mit lauter Musik,  Sirenen und Blaulicht, sie forderten die Menschen auf, ihre Häuser zu verlassen und mitzuziehen, sich für den nächsten Tag mit Großdemo vorzubereiten. 

In meinem Erleben hat dieser Autocorso einen sehr aggressiven Eindruck hinterlassen und war ein Vorgeschmack auf das, was gestern in unserer Stadt los war. 

Gestern versammelten sich dann Menschen aus dem ganzen Land in Kassel, um gegen Coronamaßnahmen zu demonstrieren: Und es ist dabei den Demonstrierenden offensichtlich gleichgültig bis willkommen, dass auch Rechte und Verschwörungstheoretiker aller Art mitmarschierten, provozierten, Journalisten und Polizisten anpöbelten. Der Ton wird rauher, eine ernsthafte Diskussion, ein gesellschaftlicher Dialog scheint immer schwieriger zu werden. 

Am Freitag rief auch Fridays for Future zur Demo auf – in dieser ganzen schwierigen und sorgenvollen Zeit eine offentsichtlich immer wieder sehr nötige Erinnerung daran, dass auch der Klimawandel nicht einfach aufhört, nur weil wir gerade mit anderen Probleme ringen. 

Der Begriff Dystopie taucht nicht umsonst sehr viel in der gesellschaftlichen Debatte unserer Tage auf: Dystopie ist das Gegenteil von Utopie: Nicht mehr der Traum von einer besseren und gerechteren Welt wird geträumt, sondern es wird der Schrecken der Zukunft vor Augen gestellt und mit ihm die ganze Ratlosigkeit und Ausweglosigkeit der Gegenwart. 

Wenn wir aber die Zukunft verlieren, auf die es sich hinzuleben lohnt, warum sollten wir dann die Gegenwart gestalten? Was kann ich dann noch erwarten? 

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Kann es aus Sicht des Glaubenden noch schlimmer kommen? 

Wenn Gott wegschaut und uns verlässt, wenn jede Zukunftsperspektive wegbricht, wenn der Blick auf die Vergangenheit nicht mehr damit rechnet, dass etwas Gutes bewahrt wird und überdauert, was machen wir dann mit Gottes Gegenwart? 

Das alttestamentliche Buch Hiob ist so etwas wie eine exemplarische Erzählung über einen Menschen, der an der Welt und auch an Gott leidet. Hiob fühlt sich nicht nur von Gott verlassen, sondern von ihm geschlagen und verfolgt. Das unverständliche und ratlosmachende Elend der Welt bricht über ihn herein und er gibt ihm mit Worten Ausdruck, die uns auch heute noch erschrecken, weil sie drastisch sind, weil sie geradezu körperliche Bilder nutzen, die uns inmittelbar in sein Leid mit hineinnehmen. 

Hiob klagt: 

Hiob 19, 19-27

Alle meine Getreuen verabscheuen mich, und die ich lieb hatte, haben sich gegen mich gewandt. 20 Mein Gebein hängt nur noch an Haut und Fleisch, und nur das nackte Leben brachte ich davon. 21 Erbarmt euch über mich, erbarmt euch, ihr meine Freunde; denn die Hand Gottes hat mich getroffen! 22 Warum verfolgt ihr mich wie Gott und könnt nicht satt werden von meinem Fleisch? 23 Ach dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach dass sie aufgezeichnet würden als Inschrift, 24 mit einem eisernen Griffel und mit Blei für immer in einen Felsen gehauen! 

Was für eine Klage: Über tiefste Verlassenheit und über das Ausgeliefert sein – über einen Gott, der nicht nur verlässt, (ach täte er es doch), sondern verfolgt. Seine eigene Seele kann Hiob nicht mehr spüren. Er ist nur noch Leib, geschundener Körper. Was er spürt sind Schmerzen, Sterblichkeit, Verfolgung. Und niemand hört ihn, niemand hört ihm zu, nicht Gott, der keine Antwort gibt, nicht die Freunde, die vor ihm sitzen und doch so weit weg. Seine Klage möge eingemeisselt sein in Stein, auf dass sie vielleicht irgendwann einmal jemand lese und bemerke. 

Liebe Gemeinde, 

diese Klage Hiobs erschüttert mich. Sie erinnert mich daran, dass so viele Menschen in ihrem tiefsten Elend nicht gesehen, nicht beachtet werden. Es wird ihnen nicht zugehört, es wird ihnen keine Perspektive gegeben, sie sind in ihrem Leid alleingelassen. 

Dabei denke ich nicht an die Menschen, die pöbelnd angeblich ihre Grundrechte zurückfordern, weil sie die Realität der Pandemie nicht anerkennen wollen oder die Krise für ihre Zwecke schamlos missbrauchen, Menschen manipulieren wollen, randalieren und aufmischen wollen. 

Ich denke an die Menschen, die schwerstkrank auf den Intensivstationen liegen und niemanden mehr sehen können ausser dick eingepackte Ärztinnen und Pfleger, die nur für das nötigste das Zimmer betreten können. Ich denke an Angehörige, die nicht Abschied nehmen können und in ihrer Trauer allein bleiben. Ich denke an Menschen, die vor Sorge vergehen, an Familien, die an ihre Belastungsgrenzen kommen, an Geflüchete in provisorischen Lagern, um die sich kaum jemand mehr schert, an Menschen wie die Filmfigur Sabine, die alles verlieren, durch alle Raster fallen und keine Perspektive mehr haben, an vereinsamte Menschen, die glauben, niemanden mehr kennenlernen zu können. 

Und ja, ich denke auch an die vielen Menschen, die sich verführen lassen von Ideologien und Verschwörungs-theorien … was ist ihnen widerfahren, dass sie dafür so anfällig sind? So viele Menschen sind sogar in unserer wohlhabenden Gesellschaft, die so viele Ressourcen und Mittel hat, verloren gegangen und aus dem Blickfeld verschwunden. So viel Wut und Verzweiflung, so viel Hass auf Sündenböcke aller Art, so viel Sehnsucht nach einfachen Antworten, nach Ignorieren der Probleme unserer Zeit. 

Dystopische Gedanken und Gefühle fordern ihren Raum. 

… und Hiob? 

Seine Zukunftsvision ist nicht eine heile Welt, nicht ein blühendes, aber abgeschottetes Paradies. Er sehnt sich nach erlösendem Sinn, danach, erkannt zu werden, derselbe zu bleiben, sich nicht selbst vollkommen zu verlieren, zu entfremden. Er möchte nicht die verblendenden Abkürzungen und unrealistischen Ausblendungen der Wirklichkeit, er sehnt sich danach, Gott zu schauen und mit ihm erlösende Wahrheit. 

Er bekennt und hofft: 

25 Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. 26 Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen. 27 Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust.

Gott gebe uns Kraft, dass wir uns selbst und einander nicht verlieren, dass wir uns wieder sehen und achten können, einandern hören und Wahrheit miteinander ersehnen, selbst dann, wenn sie eine unbequeme ist. 

Amen