„Gott sehen?!“ – Gottesdienst vom 15.01.2023 zum Nachlesen

Hier können Sie die Predigt vom 15. Januar 2023 von Pfr. Till Jansen aus der Markuskirche nachlesen:

Predigt über 2. Mose 33, 18-23

„Sie gehen von einer Kraft zur andern und schauen den wahren Gott in Zion“, hieß es im Psalm (84): Was für ein ermutigender, sehnsuchtsvoller Satz.

„Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen“, sagt der alte Simeon, als er das kleine Jesuskind im Tempel sieht (Lukas 2). Man hört in diesen Worten, wie er Frieden findet, loslassen kann, etwas sich vollendet.

Und Mose sprach zu Gott: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“

So beginnt die Erzählung aus dem zweiten Buch Mose, die wir heute bedenken wollen (2. Buch Mose, 33, 18-23).

„Ich will dich, Gott, sehen in deiner Unendlichkeit, in der machtvollen Klarheit, in der umfassenden Erkenntnis von Wahrheit, dass du Gott bist!“ – so in etwa könnte man „Herrlichkeit Gottes“ ausformulieren.

Ich will Gott sehen. Wahrscheinlich können Sie diesen Wunsch nachvollziehen oder?

Ich verstehe das. Wenn jemand etwas auf dem Handy gesehen hat und einem anderen erzählt, was er da unglaubliches gesehen hat, auf youtube oder tiktok oder wo auch immer, folgt meist ein: „Zeig, das will ich sehen.“

Das Sehen ist für uns Menschen unglaublich wichtig. Daher möchte ich Sie auf einen kleinen Ausflug über das Sehen mitnehmen, bevor wir die Erzählung aus dem 2. Mosebuch hören.

Dass wir überhaupt etwas sehen können ist ein unheimlich komplexer Vorgang.

Das Licht, genauer gesagt elektromagnetische Strahlung in dem für uns sichtbaren Bereich, fällt in unser Auge, wird durch unsere Linse gebündelt und zwar auf unterschiedliche Weise, je nachdem, ob das Licht von weiter weg kommt oder von nahem, und fällt dann auf die Netzhaut des hinteren Auges. Rein optisch entsteht dort noch kein „Bild“, sondern spiegelverkehrte und auf den Kopf gestellt optische Informationen. Es sind lediglich unterschiedliche Stimulierung von hell und dunkel, also unterschiedlicher Intensität der elektomagnetischen Reize und Unterscheidung von Farben, also unterschiedliche Wellenlängen elektromagnetischer Strahlung. Sichtbares Licht heißt, dass es eine enorme Bandbreite von Licht gibt, das wir überhaupt nicht sehen können, sonst würden wir in der Mikrowelle auch sehen, wie sie arbeitet oder würden sehen, wie das Radio etwas empfängt. Trotz dieser Einschränkung: Diese enorm detailierten Informationen des sichtbaren Lichtes werden vom Sehnerv in unterschiedlich Regionen des Gehirns übermittelt.

Bestimmte Areale des Gehirns interpretieren jetzt unterschiedlich Bereiche dieser Informationen. Hell und Dunkel, hatten wir ja schon, sowie die Farben, aber auch Bewegung und anderes mehr.

Diese unterschiedlichen Bereiche des Gehirns funken jetzt wie Radiostationen mit verschiedenen Sendefrequenzen ihre Ergebnisse an eine Sehzentrale im Gehirn, die diese Frequenzen unterscheiden und gleichzeitig verarbeiten kann und vor allem zusammensetzen kann. Dabei werden zugleich alle Informationen, die das Auge spiegelverkehrt und auf den Kopf gestellt geliefert hat wieder umgedreht, so dass hoffentlich auch das Bild entsteht, das dem, was draussen das Licht reflektiert hat, so dass es auf unser Auge treffen konnte, auch entspricht. Beispielsweise einem Baum.

Das an sich schon: ein wahnsinnig komplizierte Vorgang, der eine unglaubliche Rechenleistung unseres Gehirns voraussetzt und vor allem: Das Bild entsteht nicht im Auge. Das Auge sammelt nur Information. Das Bild entsteht im Gehirn. Und weil das so ist, kann das Gehirn auch Bilder erzeugen von Dingen, die das Auge gar nicht erfasst hat: Sei es in der Phantasie oder im schlimmen Falle in Form von Halluzinationen, die für unser Wirklichkeitsempfinden keinen Unterschied zur Realität machen.

Was wir sehen, ganz egal ob es wirklich da ist, es also einen Reiz im Auge gab, oder ob es nur ein im Gehirn entstandenes Bild ist, ist zunächst für uns die Realität.

So weit so gut. Wir haben ein Bild. Ein Bild an sich ist aber noch nicht viel Wert, denn reines Sehen bringt uns nichts. Wir müssen das Bild auch erkennen. Wir müssen Dinge voneinander abgrenzen, wo das eine aufhört und das andere beginnt. Wir müssen dann die Dinge als das, was sie sind erkennen: ein Stuhl, ein Schrank, ein Flügel, Menschen, Gesichter, ein bekanntes Gesicht. Wir deuten ihre Position im Raum, ihre Bewegung, ihren Zustand, im Fall von Menschen ihre Emotion, wir deuten Gefahren.

Als wir mit der Konfirmandengruppe letzten Dienstag ein Pantomimewettbewerb mit Emotionen gemacht haben, wurden alle Gefühle erraten – wenn erst einmal eine Idee da war, wie man das darstellt, dann in Sekundenschnelle.

In vielen Bereichen des Sehens haben wir natürlich gelernt zu Unterscheiden: Im Kino wissen wir, dass es künstlich erzeugte Bilder sind, und doch machen diese Bilder etwas mit uns und wir tauchen ab in andere Welten. Wir können unterscheiden, aber wir haben trotzdem nicht die volle Kontrolle darüber: Kinobilder machen etwas mit uns. Es gibt Menschen, die in Traumatherapie sind, weil sie mit 3dBrillen Videospiele gespielt haben und Bilder nicht mehr loswerden, die sie gesehen haben, Erlebnisse nicht vewältigen können, die ihnen künstlich aufs Auge gespielt wurden.

Die US-Regierung hatte einen dritten Golfkrieg vor dem UN-Sicherheitsrat legitimiert, unter anderem, mit Bildern von Bedrohung und Anlagen für Massenvernichungswaffen des Irak, die es in Wirklichkeit nicht gab. Manche Ereignisse schaffen es schwer in die Tagesschau, wie beispielsweise die Proteste im Iran, weil es dazu kein Bildmaterial gibt.

Zusammengefasst kann man also sagen: Trotz der faszinierenden Leistung von Auge und Gehirn ist das Verhältnisse von Sehen und Wirklichkeit keine selbstverständlichkeit. Dasselbe gilt übrigens auch fürs Hören, Fühlen, Riechen, Schmecken.

In unserer ganzen Wahrnehmung befinden wir uns sozusagen auf einer kleinen Insel der Wirklichkeitsdeutung, die für unseren Alltag enorm gut funktioniert. Und wir sind hier noch im Bereich von Wirklichkeiten, sozusagen einem Ding an und für sich, das mehr ist als das wahrgenommene und gedeutete Abbild. Wir sind noch nicht im Bereich von Wahrheit, was noch einmal etwas anderes, umfassenderes ist.

18 Und Mose sprach zu Gott: Lass mich deine Herrlichkeit sehen! „Ich will dich, Gott, sehen in deiner Unendlichkeit, in der machtvollen Klarheit, in der umfassenden Erkenntnis von Wahrheit, dass du Gott bist!“

Vor dem Hintergrund dessen, was wir über unsere Wahrnehmung wissen, hören wir jetzt Gottes Antwort.

19 Und Gott sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will erklingen lassen den Namen des HERRN vor dir: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. 20 Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. 21 Und der HERR sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. 22 Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. 23 Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.

Liebe Gemeinde, ohne unser Wissen über das Auge und das Gehirn, über Wahrnehmungsgrenzen und Deutungsmöglichkeiten, haben die alttestamentlichen Autoren in ihrer Erzählung unfassbares über die Wahrnehmbarkeit Gottes beschrieben.

Wenn Gott als umfassende Wahrheit, als machtvolle Klarheit, als entgrenzte Wahrnehmung von Wirklichkeit geschaut werden könnte, würden wir das in der Tat nicht überleben.

Wie zum Schutz des Mose stellt Gott ihn auf einen Felsen, hebt ihn heraus aus dem Nichtsein ins Sein, gibt ihm einen Platz im göttlichen Bereich der Weltwahrnehmung und Deutung. Seine Güte will er vor seinem Gesicht vorüberziehen lassen und er will auch davon hören lassen, aber sein Angesicht, seine Herrlichkeit, also sein Ganzes göttliches Sein nicht.

Dafür grenzt er den Blick des Mose ein durch Felsklüfte und durch seine Hand.

Was Mose bleibt ist die Fähigkeit, Gott hinterherzuschauen, also im Rückblick zu deuten und zu sagen: Ich habe Spuren Gottes geschaut. Er kann sie nicht ergreifen, nicht im Augenblick erfassen, nicht durch seinen Blick eingrenzen und bestimmen, schon gar nicht festhalten … nur bezeugen: Ich habe eine Spur Gottes erfahren.

Würden wir die göttliche Ganzheit von Wahrheit und Wirklichkeit erleben, und damit auch die Grenzen von Nichtsein und Sein aufheben, so würden wir gelähmt und entgrenzt zugleich: In der Erkenntnis umfänglicher Wahrheit gibt es keine Handlungsspielräume, keine Irrtümer, aber auch kein Glück, Schuld türmt sich zu nicht zu bewältigender Last, die eins wird mit verstehender Einsicht bei mir und meinem Gegenüber zugleich.

Darin verliere ich mich im Ganzen und im Nichts zugleich und höre auf zu sein.

Gottes Güte ist es, dass wir auf dem Felsen des Seins stehen, beschirmt von seiner Hand und begabt mit der begrenzten aber wundervollen Wahrnehmung des Lebens, mit dem Glück Gottes Spuren im Nachhinein zu ahnen, davon zu hören, weil Menschen um uns und vor uns davon erzählen, verbunden zu sein mit dem Ganzen, es zu ersehnen, und doch ein je ganz eigener Mensch zu sein.

In der Suche nach seinen Spuren, erhoffen wir, dass wir von einer Kraft zur andern gehen und irgendwann sagen können: Wir finden Frieden, weil wir den Heiland gesehen haben.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, auch als unser Sehen und Forschen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

AMEN

Quelle des Beitragsbildes: Wikipedia, Artikel „Auge“