Gottesdienst vom 20.06.2021 zum Lesen und Hören

Hier können Sie den Gottesdienst vom 20.06.2021, 3. Sonntag nach Trinitatis, mit Pfr. Till Jansen und Kantor Juergen Bonn aus der Markuskirche hören.

Eingangsliturgie
Predigt
Ausgangsliturgie

Hier können Sie die Predigt von Pfr. Till Jansen nachlesen:

Predigt

zum 3. Sonntag nach Trinitatis (20.06.2021) von Pfr. Till Jansen (Markuskirche Kassel)

Liebe Gemeinde, 

ich möchte mit Ihnen und euch heute einen unbequemen Blick auf ein sehr vertrautes Bild für die christliche Gemeinde werfen. (Im Lied wurde es mit Worten des 23. Psalms besungen) und im Predigttext aus dem Lukasevangelium erzählt. 

Wir hören die Geschichte vom verlorenen Schaf und dem guten Hirten und auch, in welcher Situation sie erzählt wird. 

Lukas 15

Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. 2 Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.

3 Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: 4 Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet? 5 Und wenn er’s gefunden hat, so legt er sich’s auf die Schultern voller Freude. 6 Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. 7 Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen. 

Diese kleine Erzählung hat eine ganz harmonische Ebene, die zutiefst beruhigend ist. In der Aue kann man sehr oft Schafherden beobachten und ich bin mit den Kindern öfter dagewesen, um die Schafe anzuschauen. 

Das ist ein unheimlich friedvolles Bild, wie die Schafe zusammenstehen und in großer Ruhe grasen, wenn Lämmer da sind, dann springen manche herum und das sieht drollig aus, Schafe rufen sich und erkennen sich an der Stimme und wenn der Schäfer kommt, dann kommt Bewegung in die Herde und alle laufen auf ihn zu. 

Niemand kann wollen, dass hier ein Schaf verloren geht. Es leuchtet unmittelbar ein, dass der Schäfer sich freut, dass das eine wiedergefunden ist und natürlich auch, dass die Herde sich freut, dass alle wieder da sind. 

Die Freude im Himmel ist beinahe zwingend logisch. 

Jesus ist ein guter Geschichtenerzähler, der seine Hörer immer im Blick hat. Denn wer steht da vor ihm? Es sind Pharisäer und Zöllner, die von vornherein Schafe aus der Herde aussortieren und gar nicht erst hineinlassen. Es sind Zöllner und Sünder, die ausgestoßen sind, und sich nach Zugehörigkeit und Annahme sehnen. 

Den einen schreibt er ins Gewissen, dass Gott sich zu recht mehr um die sorgt, die ausserhalb der Herde stehen und sich über die freut, die zurückkommen, den anderen eröffnet er den Weg zurück, indem er ihnen sagt: Gott sucht euch, er will nichts mehr, als dass ihr wieder dazugehört, er hat euch nicht abgeschrieben und ausgestoßen, auch wenn andere, nämlich Pharisäer und Schriftgelehrte, das getan haben. 

Ich höre in dieser Geschichte, dass wir aufmerksam sein müssen, wer am Rand steht oder verloren geht. Ich höre, dass auch ich als einer, der immer wieder verloren geht, von Gott immer wieder gesucht wird. Als eifriger Glaubenden könnte man auch hören, dass es oft nicht reicht,  zu dem Verlorenen zu sagen: Komm doch zu uns! Man muss hingehen und ihn suchen, denn von allein wird er vielleicht nicht kommen können oder den Weg finden. 

Aber als unbequem stellt sich mir doch die Frage: Was ist eigentlich diese Herde und was macht sie zur Herde? 

Man könnte auf die Idee kommen: Zöllner, Sünder, Pharisäer und Schriftgelehrte zusammen, aber wie? Indem die einen „zurückkommen?“ oder die anderen ein wenig sündhafter? Indem die einen in ihrer Regelbeachtung und ihrem religiösen Eifer etwas zurückstecken und die anderen sich mehr Mühe geben und ihr Leben bessern? 

Dazu bräuchte es aber auch damals gesellschaftliche Umwälzungen, Gleichheit in den Bildungschancen, einen politischen Klärungsprozess mit den Römern und eine Finanzreform, eine Einigung über das Verhältnis von Mann und Frau, denn von Pharisäerinnen habe ich nichts gelesen. 

Aber das alles klappt ja nicht einmal heute, im Gegenteil: An solchen und ähnlichen Fragen spaltet sich die Gesellschaft mehr und mehr, abgesehen vielleicht von den Römern, für die man aber leicht Ersatz findet. Wenn dann noch eine Pandemie die gesellschaftliche Ordnung in Frage stellt, sich Unterschiede einstellen zwischen Geimpften und Nicht-Geimpften, wenn Konflikte zwischen Generationen sich verstärken, Bildungsgleichheit in noch weitere Ferne rückt und die Frage, was getan werden sollte und ob es das Virus überhaupt gibt, zu (solchen) Demonstrationen führt wie gestern hier in Kassel, …  was passiert dann mit einer Herde?

Die Bildung von Gruppen, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und die Sehnsucht danach gehört zu uns Menschen unweigerlich dazu, aber sie hat auch ihren Preis, denn wo es eine innere Zusammengehörigkeit einer Gruppe gibt, da gibt es auch ein Aussen und zwar, wie der franzözische Philosoph René Girard sagt, ein notwendiges Aussen. 

Du deckst vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. 

Es reicht nicht, dass es den Tisch für mich gibt, denn der Tisch muss innerhalb der „richtigen“ Gruppe stehen, und das heißt, der Feind muss draussen stehen und es am besten eben auch sehen. 

Das ist das eine Problem: Wo es ein Drinnen gibt, da gibt es auch notwendig ein Draussen, oder anders gesagt: Ohne ein Draussen, gibt es auch kein Drinnen. Entweder muss also jemand verloren gehen oder es muss Leute geben, die nicht rein dürfen. 

Nochmals René Girard: Wenn die Gruppe intern gefährdet ist, dann braucht es einen Sündenbock, der nach draussen vertrieben wird, damit die Gruppe intern wieder funktioniert. 

Das zweite Problem ist, dass eine Gruppe natürlich Verständigung braucht, was die Gruppe definiert. Das bedeutet, jemand muss sagen, wer dazugehört und wodurch, und wer verloren gegangen ist. Und diese „einfache“ Notwendigkeit hat immer zu unsäglichem Leid geführt und zu schreiender Ungerechtigkeit. Das kann man für alle Arten von Gruppen durchspielen durch die ganze Weltgeschichte hindurch, aber für uns ist es natürlich die Frage nach der Kirche und der Gemeinde Gottes. 

Was sagt uns das, dass früher Selbstmörder ausserhalb der Friedhofsmauern beigesetzt wurden? Wie lange hat es gedauert, bis Frauen Pfarrerinnen werden konnten? Auch heut noch bekommen Pfarrer*innen ernsthafte Probleme, wenn sie einen muslimischen Partner heiraten wollen. In vielen Kirchen der Welt bietet man an, homosexuelle Menschen umzuerziehen und auf den von Gott gewollten Pfad zurückzubringen. Nicht nur in der katholischen Kirche, auch bei uns tun sich viele schwer, kirchliche Hochzeiten für Homosexuelle durchzuführen. Bei der Anfrage nach einem Fernsehgottesdienst in unserer Landeskirche heißt es, Bedingung sei, dass der Ortsgeistliche telegen sei, also gut vor der Kamera aussieht, oder es eben aushalten muss, dass er oder sie ersetzt wird. Das ist eine unerträgliche Beugung vor oberflächlichen Schönheitsidealen, die wer festgelegt hat? 

Wieviele Menschen haben gelitten, weil die Gruppe ihnen gesagt hat, sie stünden draussen, sie wären verloren, sie dürften ja unter Bedingungen zurückkommen, dabei hätten sie gar nicht draussen und am Rand sein müssen. . 

Vielleicht hat auch manchmal der Recht, der am Rand steht, vielleicht steht jemand nur am Rand, weil die Gruppe ihn oder sie dahin gestellt hat. 

Wenn wir die Geschichte Jesu vom verlorenen Schaf hören: Mit welchen Ohren hören wir sie dann? Mit Sünderohren oder Pharisäerohren? Ich gaube, mit beiden zugleich und auch allem, was dazwischen liegt. Wenn wir als Pharisäer hingehen würden, um die angeblich Verlorenen zurückzuholen, dann liegen wir mit großer Sicherheit falsch. Wenn wir uns als Zöllner und Sünder selbst noch weiter ins Abseits stellen, als wir sowieso schon gestellt sind, oder eine eigene Gruppe gründen, werden wir weder uns selbst noch der Gemeinde Gottes gerecht. Einen klaren Auftrag an die einen oder die anderen, kann man vielleicht gar nicht heraushören. 

Der, der losgeht, um das Schaf zu suchen, das bin nicht ich und das sind nicht Sie. Der das Schaf findet, sei es ein sündiges oder pharisäisches, wie immer man das bestimmt, ist allein Gott und er allein bringt es zu sich zurück. 

So sehr wir als institutionelle Kirche Dinge regeln müssen, so ist für mich diese Geschichte vom suchenden Gott der Auftrag, unsere Grenzen von Zugehörigkeit, unsere Grenzen von Normen und Bedingungen immer wieder anzufragen und zu erweitern. Ich weiß nicht, ob mein Nächster verloren ist. Mein Auftrag ist, ihm oder ihr als zu Gott gehörigem Menschen liebevoll zu begegnen. Das wünsche ich mir von meinem Nächsten auch. 

Amen