Gottesdienst am Altjahrsabend zum Hören

Hier können Sie den Gottesdienst zum Altjahrsabend 2021 aus der Markuskirche mit Vikar Rudolf Heiligenthal und Kantor Juergen Bonn anhören:

Eingangsliturgie
Predigt
Ausgangsliturgie

Wir wünschen Ihnen und Euch allen ein gesegnetes neues Jahr 2022 !!!

Hier können Sie die Predigt von Vikar Rudolf Heiligenthal nachlesen:

Predigt am Altjahrsabend 2021

Der römische Gott Janus ist nicht zu beneiden. Ein Kopf – zwei Gesichter. Ein alter Mann und ein junger Mann blicken in unterschiedliche Richtungen. Die Abbildungen auf antiken Münzen erinnern ein wenig an den stotternden Professor aus dem ersten Harry-Potter-Band, der den dunklen Lord auf dem Hinterkopf beherbergt. Etwas gruselig.

Janus – das ist der römische Gott der Türschwellen, der Haustür, des Übergangs und allen Anfangs. Das erste Gebet des Tages galt im alten Rom stets ihm. Er kennt die Vergangenheit und die Zukunft. Er hat ja immer beides im Blick. Auch uns grüßt dieser Janus noch zu Beginn eines jeden Jahres: Januar hat diesen römischen Gott fest in unser aller Wirklichkeit verankert.

Im heutigen Gottesdienst grüßt uns ein Gleichnis aus dem Matthäus-Evangelium. Finster kommt dieses Gleichnis daher. Das Unkraut wird von einem Feind gegen den Willen des Säers auf dem Acker ausgebracht. Doch anstatt es zu verhindern oder frühzeitig Gegenmaßnahmen zu ergreifen, lässt der Säende es gemeinsam mit dem Weizen wachsen. Doch der Weizen bleibt gewollt und das Unkraut nicht. Es ist da und hat doch keine Existenzberechtigung. Erst am Ende des kurzen Textes wird das längst feststehende Urteil gefällt, gnadenlos und drastisch. Der Weizen wird in die Scheune geschafft, das Unkraut wird gebunden und verbrannt, unwiderruflich und gnadenlos. Keine Wandlung, keine Umkehr, kein Ausweg, keine Gnade, nur Nutz und Unnutz.

Dieses Jahr 2021 hatte für die meisten von uns auch zwei Gesichter. In meinem näheren und weiteren Umfeld wurden viele Feste gefeiert. Es wurde geheiratet. Kinder wurden geboren. Es gab runde Geburtstage. Man hat alte Freunde nach langer Zeit mal wiedergesehen. Auch Abschiede konnten gefeiert werden. Aber natürlich stand da immer das zweite Gesicht „Corona-Pandemie“ dieses Jahres 2021 im Hintergrund – mal mehr und mal weniger deutlich. Manches wurde kurzfristig eingeschränkt oder gar abgesagt. Politische Maßnahmen, das eigene Verantwortungsgefühl oder die Wünsche und Bedürfnisse des sozialen Umfeldes ließen oft genug lange Geplantes in der Luft hängen. Das ganze Jahr war beständig unbeständig.

Dieses Jahr ist fast vorbei. 2022 steht in den Startlöchern. Jahresrückblicke haben die letzten Tage bestimmt. Gleichzeitig wird an das kommende Jahr gedacht. Wir werden alle ein bisschen Janus: Es werden Pläne gemacht, Wünsche ausgesprochen, gute Vorsätze gefasst. Aber es scheint mir, dass wir vieles von dem, was wir gerne im vergehenden Jahr lassen würden, mit ins nächste Jahr nehmen werden: Pandemie, Klima, Spaltung, Geflüchtete, wirtschaftliche Unsicherheiten. Alles Vergangene bleibt irgendwie im Blick. Nichts wird wirklich hinter sich gelassen. Der Blick zurück ist gleichzeitig der Blick nach vorne. Irgendwie Janusköpfig.

Und dann kommt Silvester – der Tag im Jahr, dem immer ein wenig der Zauber eines Neuanfangs innewohnt: „Ab morgen mach ich alles anders!“ Ein bisschen Selbstbetrug ist immer mit dabei: „Neues Jahr, neues Glück“, gegossen aus Blei, in den Himmel geschossen und in Funken zerstoben.

Schaffen Sie es, diesen Zauber auch dieses Jahr ein wenig zu verspüren? So viele Themen stellen sich doch neben uns und winken ganz unverhohlen. Sie wollen mitgenommen werden über diese Schwelle, wenn der Zeiger den letzten Satz macht, vom alten in das neue Jahr.

Ich fühle mich wie einer dieser Knechte aus dem Gleichnis: Ausrupfen möchte ich. Ausgerissen werden sollen diese permanenten Belastungen, die ihren Schatten über jede Planung werden – die als zweites Gesicht auf jedem Vorhaben kleben, mal verstohlen und mal breit grinsend. Ich möchte nicht mehr für andere denken müssen. Ich möchte nicht mehr von den freien Entscheidungen anderer, sich an Regeln zu halten oder nicht, eingeschränkt werden. Ich möchte sicher gute Ernte für mein eigenverantwortliches Tun einfahren und nicht am Ende mit lauter Unkraut dastehen. Eigentlich möchte ich nicht nur ausrupfen, sondern gleich dem Feind, der des Nachts kommt und Unkraut unter den Weizen sät, in den Arm fallen. Ich möchte ihn aufhalten und anschreien, was das denn zum Teufel soll, was er da macht?!

Was für Samen säht man aus, wenn man Unkraut haben will? In den Beeten, die ich kenne, kommt Unkraut einfach durch. Ich muss es regelmäßig ausjäten. Mit dem Reich Gottes scheint es sich ähnlich zu verhalten. Auch in ihm ist das Widergängige eingeschrieben. Es kommt jemand, der scheint Unkraut zu säen. Und der kommt einfach. Wenn ich mir die Mühe mache, den Samen von etwas aufzubewahren, ist es doch kein Unkraut, sondern bewahrenswürdig. Sauerampfer, Spitzwegerich, Löwenzahn, Schafgarbe, Giersch, Knopfkraut, Gartenschaumkraut, Pimpinelle, Brennnessel. Das sind alles gängige Unkräuter in unseren Gärten. Die Liste ließe sich sicher noch fortführen. Aber diese Unkräuter haben alle etwas gemeinsam: Man kann sie essen. Man muss sie nicht verbrennen. Mach Salat aus deinem Unkraut! Ist für die Glutenintoleranten eh besser, als all der Weizen in der Scheune…

Der Fokus des Gleichnisses liegt nicht auf dem Verbrennen am Ende und nicht auf dem Aussäen des Unkrauts, sondern auf dem gemeinsamen Wachsen von Weizen und Unkraut. Jesus vertritt keine diesseitige Ethik der absoluten Reinheit, der perfekten Askese oder der heiligen und abgesonderten Gemeinde. Jesus sammelt um sich herum eine feste Kerngemeinschaft als sichtbares Zeichen der anbrechenden Gottesherrschaft, die 12 Apostel. Drum herum gibt es eine große Anzahl an Jüngerinnen und Jüngern. Und dann gibt es all die Menschen, die sich gegen die Nachfolge im eigentlichen Sinne entschließen; die Freunde, die Förderer, die Unterstützer, die Neugierigen, die Helfer, die Nutznießer, Verachtete, sozial Ausgestoßene. Der jesuanische Grundgedanke ist also gerade nicht die Aussonderung, sondern die Sammlung. Stück für Stück sammelt Jesus Menschen um sich und werden Menschen um Jesus versammelt. Jesus sondert nicht aus, aber er mahnt einen jeden, aus sich das Beste zu machen. Der Reiche kommt nicht in das Himmelreich, nur weil er reich ist. Es steht ja nicht zum Verkauf. Öffnet er sich jedoch wie Zachäus, der habgierige Zöllner, für die Botschaft Jesu, steht ihm das Himmelreich selbstverständlich offen. Jesus verbrennt niemanden. Die Ehebrecherin wird vor den Steinen bewahrt. Nicht mal ihren Anklägern droht Jesus mit Konsequenzen.

Also ein entschiedenes „Nein“ zum Verbrennen! Alles soll miteinander wachsen. Unkraut und Weizen gemeinsam – zusammen wachsen. Gemeinsam auf demselben Acker, in einem Prozess, in einer Existenz: Miteinander. 

Zusammenwachsen. Das muss auch unsere Gesellschaft im neuen Jahr. Aber auch Freunde, Familien, Partner. Scharfe Trennungen sind gemacht worden. Man hat sich verletzt. Man hat egoistisch Standpunkte vertreten, hinter die man nicht mehr zurück konnte, als man es gerne wollte.

Gelassenheit spricht für mich aus diesem Gleichnis. Kein sinnloser Aktionismus. Sondern allem seine Zeit und seine Existenzberechtigung geben. Urteilen kann man immer noch. Es wird gemeinsam wachsen gelassen, es wird gemeinsam eingesammelt. 

2021 war ein janusköpfiges Jahr. Es ist wahrlich nicht schön anzusehen. Vieles aus ihm nehmen wir mit ins neue Jahr. Die Vergangenheit wird auch ein Stück weit Zukunft bleiben. Aber urteilen wir noch nicht zu schnell darüber. Denn auch wir sind daran gewachsen und können daran wachsen, persönlich und als Gesellschaft. Trauen wir uns auch ein wenig Janusköpfigkeit zu: Den Blick fest in die Zukunft gerichtet, aber die Vergangenheit nicht aus dem Blick verlierend. Wir verbrennen dieses Jahr nicht einfach aus unserer Erinnerung, sondern wachsen daran. Wir schauen, was wir mit dem einzelnen anfangen können und wie wir das Beste daraus machen.