Gottesdienst vom 24.01.2021 zum Lesen und Anhören – Ein Gottesdienst zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus!

Die Predigt von Pfr. Jansen können Sie unten lesen. Den ganzen Gottesdienst mit Pfr. Jansen und Kantor Juergen Bonn können Sie hier hören (ab etwa 12.30 Uhr).

Eingangsliturgie
Predigt

Schriftlesung  Rut 1, 1-19

Zu der Zeit, als die Richter richteten, entstand eine Hungersnot im Lande. Und ein Mann von Bethlehem in Juda zog aus ins Land der Moabiter, um dort als Fremdling zu wohnen, mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen. 2 Der hieß Elimelech und seine Frau Noomi und seine beiden Söhne Machlon und Kiljon; die waren Efratiter aus Bethlehem in Juda. Und als sie ins Land der Moabiter gekommen waren, blieben sie dort. 

3 Und Elimelech, Noomis Mann, starb, und sie blieb übrig mit ihren beiden Söhnen. 4 Die nahmen sich moabitische Frauen; die eine hieß Orpa, die andere Rut. Und als sie ungefähr zehn Jahre dort gewohnt hatten, 5 starben auch die beiden, Machlon und Kiljon. Und die Frau blieb zurück ohne ihre beiden Söhne und ohne ihren Mann. 6 Da machte sie sich auf mit ihren beiden Schwiegertöchtern und zog aus dem Land der Moabiter wieder zurück; denn sie hatte erfahren im Moabiterland, dass der HERR sich seines Volkes angenommen und ihnen Brot gegeben hatte. 7 Und sie ging aus von dem Ort, wo sie gewesen war, und ihre beiden Schwiegertöchter mit ihr. Und als sie unterwegs waren, um ins Land Juda zurückzukehren, 8 sprach sie zu ihren beiden Schwiegertöchtern: Geht hin und kehrt um, eine jede ins Haus ihrer Mutter! Der HERR tue an euch Barmherzigkeit, wie ihr an den Toten und an mir getan habt. 9 Der HERR gebe euch, dass ihr Ruhe findet, eine jede in ihres Mannes Hause! Und sie küsste sie. Da erhoben sie ihre Stimme und weinten 10 und sprachen zu ihr: Wir wollen mit dir zu deinem Volk gehen. 11 Aber Noomi sprach: Kehrt um, meine Töchter! Warum wollt ihr mit mir gehen? Wie kann ich noch einmal Kinder in meinem Schoße haben, die eure Männer werden könnten? 12 Kehrt um, meine Töchter, und geht hin; denn ich bin nun zu alt, um wieder einem Mann zu gehören. Und wenn ich dächte: Ich habe noch Hoffnung!, und diese Nacht einem Mann gehörte und Söhne gebären würde, 13 wolltet ihr warten, bis sie groß würden? Wolltet ihr euch einschließen und keinem Mann gehören? Nicht doch, meine Töchter! Mein Los ist zu bitter für euch, denn des HERRN Hand hat mich getroffen. 14 Da erhoben sie ihre Stimme und weinten noch mehr. Und Orpa küsste ihre Schwiegermutter, Rut aber ließ nicht von ihr. 15 Sie aber sprach: Siehe, deine Schwägerin ist umgekehrt zu ihrem Volk und zu ihrem Gott; kehre auch du um, deiner Schwägerin nach. 16 Rut antwortete: Bedränge mich nicht, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. 17 Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der HERR tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden. 18 Als sie nun sah, dass sie festen Sinnes war, mit ihr zu gehen, ließ sie ab, ihr zuzureden. 19 So gingen die beiden miteinander, bis sie nach Bethlehem kamen.

Predigt von Till Jansen

„Zu der Zeit, als die Richter richteten, entstand eine Hungersnot im Lande.“

Liebe Gemeinde, 

der Anfang der Erzählung zeigt es sogar zweifach an: Wir befinden uns inmitten einer Zeit des Umbruches und der Krise. 

Eine Hungersnot ist im Lande – das ist das offensichtlichste, aber … die Hungersnot kommt zu einer grundlegenden Krise hinzu. 

„Als die Richter richteten“ – diese Zeitangabe bedeutet sowieso schon „Krise“. Israel befindet sich in einer Zwischenzeit, zwischen Landnahme und Königtum. 

Es gibt so etwas wie einen Staat, aber er ist noch nicht richtig organisiert, geschweige denn etabliert. 

Alle Institutionen sind umstritten, im Aufbau, oder im Schwinden. Es gibt wenig Sicherheit und Zuverlässigkeit im Land, wenig bis keine soziale Absicherung, wenig Planbares. In kurzen und nicht vorhersehbaren Abständen stehen aus der Mitte des Volkes sogenannte „Helden“ auf, auch Richter genannt, die für kurze Zeit „Ordnung“ schaffen und das vermeintlich schlimmste verhindern, aber eine dauerhafte Ordnung entsteht dadurch nicht. Abgesehen davon schrecken diese Helden auch nicht davor zurück, andere Herrscher zu ermorden, um ihre Ziele zu erreichen. 

Liebe Gemeinde, 

es sind Abläufe, die sich in der Geschichte immer wieder abgespielt haben: Zeiten der Krise bergen die Chance, dass etwas neues entsteht, ja sogar entstehen muss, aber sie bergen auch die Gefahr, dass starke Männer ersehnt werden, die mit ihrem Führungsanspruch in der Orientierungslosigkeit der Krise für Ordnung sorgen, selbst dann, wenn diese Ordnung schlimme Konsequenzen hat. 

Die Zeit nach dem 1. Weltkrieg war eine Krisenzeit: Ein verlorener Weltkrieg, der viel Elend verursacht hat, Hunger und Not, hohe Arbeitslosigkeit. Das alles bleibt auch bestehen im Aufschwung der goldenen Zwanziger mit teils unglaublich fortschrittlichen Ideen und experimentellen Gesellschaftsentwürfen, neuer Kunst und relativ viel Freiheit. Die Weltwirtschaftskrise erschüttert dann eine Gesellschaft, die extrem gespalten und uneins ist, sich noch nicht gefunden hat. 

Liebe Gemeinde, 

im Rückblick sind dies Erklärungen, die nichts, aber auch gar nichts rechtfertigen können von dem Grauen, was im „Dritten Reich“ geschehen ist. Dennoch: Wie haben die Menschen diese Zeit erlebt? Bis zu welchem Punkt konnte wer aus welchen Gründen die Politik aufkommender Nationalsozialisten mittragen, die am Ende das Unmenschlichste hervorgebracht hat? Was werden die jüngeren Generationen  zu unserer heutigen Zeit einmal sagen: Welche Entwicklungen hätten wir anders wahrnehmen müssen, wo hätten wir mehr tun müssen, Widerstand leisten und streiten müssen? Wie gehen wir um miteinander in der Krise, im Klimawandel, im Auseinanderklaffen von Arm und Reich?

Der Blick in die Geschichte erinnert uns daran, dass auch wir Verantwortung tragen und unsere Krisen wachsam beobachten und unsere Zeit gestalten müssen. 

Zurück zur Geschichte von Noomi und Elimelech: 

In einer schweren Krise Israels macht sich die Familie als Wirtschaftsflüchtlinge auf  – von Bethlehem in das Land Moab … ein verfeindetes Land übrigens. Aber es wird ganz kurz und knapp berichtet: Sie leben sich dort ein, die Söhne heiraten moabitische Frauen. Es gelingt – mit heutigen Worten – eine sensationell unaufgeregte Integration. 

Allerdings wird die Familie auch in Moab von Schicksalsschlägen erschüttert. Alle Männer sterben, der Vater und die beiden Söhne. Für Noomi, für die Frauen ist das eine Katastrophe, weil sie in der damaligen Zeit und in der Fremde, keinerlei Möglichkeiten hatten, sich selbst zu versorgen. Sie stehen vollkommen mittellos und chancenlos da, vor allem Noomi, die Fremde. 

Ihre einzige Möglichkeit: Sie muss zurückgehen nach Betlehem. Da die Hungersnot vorüber ist, macht sie sich also auf den Weg zurück – nun aber als eine Familie mit unterschiedlichen Herkünften. Ihre Schwiegertöchter stammen ja aus dem Lande Moab. Sie haben eine unterschiedliche Kultur, eigene Familien, die sie zurücklassen müssen, sie haben sogar einen anderen Glauben! 

Nun stellt sich die Frage andersherum: Wie werden sie in Juda aufgenommen? Welche Möglichkeiten haben sie als Frauen dort? 

Beim Lesen dieser Geschichte musste ich an Jochen Klepper und seine Familie denken, was ihr in der Zeit des Nationalsozialismus wiederfahren ist. Jochen Klepper hatte Theologie studiert, aber den Beruf des Pfarrers nicht ergriffen. Er war Schriftsteller und Dichter. Die Texte der Lieder, die wir heute hören, hat er verfasst. 

Jochen Klepper lernte 1928 Johanna Stein kennen, eine jüdische Frau, die sehr früh verwitwet war und schon zwei Töchter hatte. Zunächst also zwei Religionen, vereint in einer Partnerschaft und in einer Liebe. Johanna ließ sich taufen und beide heirateten 1931. Trotz der Taufe mißbilligte die Familie Kleppers jedoch seine Ehe mit einer Jüdin. Dass sie getauft worden war, spielte auch für die rassistische Ideologie der Nationalsozialisten keine Rolle. Und so blieben ihre ehemalige Religionszugehörigkeit und seine sogenannte Volkszugehörigkeit, also nicht seine Religion, in der pervertieren Form von Rasseneinteilungen eine Unterscheidung, ein äußerlich zugefügter Riß in dieser Familie, so blieb die Ehe eine „Mischehe“, wie man damals sagte. 

Wie erstaunlich dagegen, wie unaufgeregt und unbekümmert das Alte Testament erzählt, wie diese jüdische Familie im befeindeten und andersgläubigen Moab Aufnahme findet. 

Die Kleppers geraten immer weiter unter Druck, je mehr die Nationalsozialisten ihr völkermörderisches Programm verschärfen. Jochen Klepper verliert seine Arbeitsstellen und bekommt beruflich keinen Fuß mehr auf die Erde. Die ältere Tochter verlässt das Land und flieht noch vor Kriegsbeginn. Ende 1940 wird Jochen Klepper in die Wehrmacht eingezogen, ein knappes Jahr später aber wegen seiner nichtarischen Ehe aus der Wehrmacht wegen „Wehrunwürdigkeit“ entlassen. Die Evangelische Kirche versuchte zu geringeren Teilen, die Gültigkeit der Taufe zu verteidigen, während ein großer Teil, insbesondere die Deuschen Christen, versuchte den Arierparagraphen auch auf die Kirchenmitgliedschaft anzuwenden. Im Dezember 1941 fordern sieben ev. Landeskirchen, die unter Leitung der deutschen Christen stehen: „Eine deutsche evangelische Kirche hat das religiöse Leben deutscher Volksgenossen zu fördern. Rassejüdische Christen haben in ihr keinen Raum und kein Recht.“ 

Zwangsscheidungen werden angestrebt von Staat und einigen Kirchenoberen. Jüdische Ehepartner und getaufte ehemalige Juden, Kinder aus „Mischehen“, sogenannte „Mischlinge“ werden deportiert und zur Zwangsarbeit gezwungen, viele davon in Kassel Bettenhausen auf dem Gelände der ehemaligen Weeberei Salzmann und Co, manche werden, je nach zuständigem Gauleiter, gleich nach Auschwitz deportiert, wie beispielsweise in Frankfurt. 

Jochen Klepper bemüht sich um eine Ausreisegenehmigung für seine jüngere Tochter, scheitert aber an den zuständigen „Sicherheitsbehörden“. Ihre Deportation steht kurz bevor. 

Im November 1942 nimmt die Familie Klepper sich gemeinschaftlich das Leben. 

Seine Tagebuch endet mit dem Eintrag: „Nachmittags die Verhandlung auf dem Sicherheitsdienst. Wir sterben nun – ach, auch das steht bei Gott – Wir gehen heute nacht gemeinsam in den Tod. Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des Segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben.“

Noomi sieht für die Schwiegertöchter mehr Chancen im eigenen Land Moab. Sie will sie überreden, in Moab zu bleiben. Die eine, Orpa, kehrt um, die andere aber, Rut, bleibt bei ihr: 

„Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. 17 Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der HERR tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden.“

Noomi versucht nicht mehr, sie zu überreden. Sie machen sich gemeinsam auf den Weg. 

Und trotz des Schwurs: Der Herr tut Rut nicht dies und das und bringt ihr auch nicht den Tod. Rut wird aufgenommen im Land, sie erhält Rechte und gründet eine Familie. Sie wird die Stammmutter Davids und damit auch eine Stammutter Jesu. Das vergisst der Evangelist Matthäus auch nicht zu erwähnen. 

Warum haben so viele Christen vor 80 Jahren diese Geschichte nicht erinnert? Warum ziehen wir auch heute noch tiefe Gräben in Familien ein, die verschiedenen Glaubens sind oder verschiedener Herkunft? Die Geschichte von Rut und Noomi macht Mut, auch in der Krise, gemeinsam auf dem Weg zu bleiben und nicht immer wieder dieselben fatalen Fehler zu machen, die anderen einzuteilen, auszugrenzen, zu beschuldigen und zu Sündenböcken zu machen: andersgläubige, andersdenkende, anders geprägte Menschen.  

Wenn wir den Weg gemeinsam gehen, wartet am Ende Leben und Gerechtigkeit, Gottes liebevolle Zukunft. 

AMEN