Gottesdienst vom 14. November 2021 zum Lesen und Hören

Hier können Sie den Gottesdienst vom 14. November 2021 aus der Markuskirche mit Pfr. Till Jansen (Liturgie), Vikar Rudolf Heiligenthal (Predigt) und Organist Oliver Vogeltanz hören:

Eingangsliturgie
Predigt
Ausgangsliturgie

Hier können Sie die Predigt von Vikar Rudolf Heiligenthal nachlesen:

Predigttext: 2. Korinther 5,1-10

     [1] Denn wir wissen: Wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel.  [2] Denn darum seufzen wir auch und sehnen uns danach, dass wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet werden,  [3] weil wir dann bekleidet und nicht nackt befunden werden.  [4] Denn solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert, weil wir lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden wollen, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben.  [5] Der uns aber dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist gegeben hat.

     [6] So sind wir denn allezeit getrost und wissen: Solange wir im Leibe wohnen, weilen wir fern von dem Herrn;  [7] denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen.  [8] Wir sind aber getrost und begehren sehr, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn.  [9] Darum setzen wir auch unsre Ehre darein, ob wir daheim sind oder in der Fremde, dass wir ihm wohlgefallen.  [10] Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf dass ein jeder empfange nach dem, was er getan hat im Leib, es sei gut oder böse. 

Predigt von Vikar Rudolf Heiligenthal

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus.

Wer ist schon gerne nackt, liebe Gemeinde? Nackt sein kann schön sein. Ich stehe gerne unter der Dusche. Ich spüre gerne die Haut eines lieben Menschen. Nacktsein bedeutet Intimität, Ehrlichkeit, Unmittelbarkeit. Wir sind ungeschützt und sehen aus, wie Gott uns geschaffen hat. Jede Schwäche und jeder Makel sind sofort zu sehen. Nicht vielen Menschen erlauben wir es, uns nackt zu sehen. Und in bestimmten Situationen vielleicht sogar niemandem. Nur die Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern lässt noch eine Ahnung von ursprünglicher Nacktheit zu.

Da machte Gott der HERR den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und schämten sich nicht. (1. Mose 2, 7+25)

Im Anfang war der Mensch bei Gott. In unmittelbarer Nähe zu ihrem Schöpfer wohnten Mann und Frau im göttlichen Garten, durch den Gott selbst gerne spazieren ging. Sie hatten ein Auskommen, ohne Mühe darauf verwenden zu müssen. Gewalt war nicht in der Welt. Gott hatte zuvor die Chaosmächte gebändigt, er hatte durch sein Wort das Zerstörerische vom Beständigen geordnet und geschieden.

Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von seiner Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon und er aß. (1. Mose 2, 6)

Durch das Essen der Frucht ist der Mensch fähig geworden, Gut und Böse zu unterscheiden. Mit dem Brudermord von Kain an Abel war die Gewalt in der Welt. Die Beziehungen zwischen Menschen und Menschen, Menschen und Schöpfung und Menschen und dem Schöpfer sind nicht mehr intakt. Durch ihre Taten allein fallen die Menschen aus der unmittelbaren Nähe Gottes heraus. Sie sind nicht mehr in der Lage, ihn zu schauen. Es bleibt ihnen nur noch der Glaube an eine heilsame, von der Liebe bestimmten Beziehung ihrer selbst zur restlichen Schöpfung. Zu den Mitmenschen, den Tieren, zu Gott selbst. Allem, was durch Gottes Geist durchdrungen ist.

Das Vorbild für die Wiederherstellung einer intakten Gottesbeziehung ist Jesus Christus. Dass Gott in seinem Sohn Jesus Christus Mensch geworden ist und durch sein Handeln das Reich Gottes wieder in die menschliche Realität bringt, ist Kern unseres christlichen Bekenntnisses. In seine Nachfolge berufen sind wir Christen dazu angehalten, durch unser Handeln das Reich Gottes auf Erden ein Stück realer werden zu lassen. Das ist der große, ethische Anspruch, aus Liebe zu unseren Mitgeschöpfen zu handeln und so eine Beziehung zu Gott haben. 

Wir sind aber getrost und begehren sehr, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn, damit wir im Schauen wandeln und nicht im Glauben. (2. Korinther 5, 6f.)

Glaube und Leib ist die paulinische Rede vom menschlichen Leben, die im Kontrast zu der zukünftigen göttlichen Realität steht. Zu dieser Lebensrealität gehört aber auch, dass wir Gläubigen um den Anspruch wissen, der an uns gestellt ist: Ein Handeln in der Nachfolge Christi und die guten Werke, die daraus entspringen, sind Ausdruck eines lebendigen Glaubens, einer heilenden Gottesbeziehung, dem Anbruch des Reich Gottes mitten unter uns.

Wer macht sich schon gerne nackt, liebe Gemeinde? Bei der Bank für einen Kredit? Mit einem öffentlichen Bekenntnis? Wer jeden Schutzschild fallen lässt und den Blick auf sein Innerstes freigibt, ist verletzlich. Er begibt sich in eine Position der Schwäche. Wer wird schon gerne nackig gemacht? Beim Fußball, ganz tief aus der Trickkiste? Beim Poker ausgezogen bis auf das letzte Hemd? Bloß gestellt durch Kommentare, Fotos, weil man nicht der Norm entspricht oder unüberlegt gehandelt hat? Eine Demütigung tut mehr weh als manche körperliche Auseinandersetzung.

Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze. (1. Mose 3, 7)

Adam und Eva stellen sich selbst bloß im Garten. Sie haben das einzige Gebot übertreten, dass an sie gerichtet wurde. Sie haben sich ein erstes Mal schuldig gemacht. Sie erkennen nun, was gut und was böse ist. Diese Unterscheidung bestimmt für immer die menschliche Existenz. Tun wir etwas Falsches, schämen wir uns. Scham ist ein Affekt in Folge von Ausgrenzung, Missachtung, Grenzüberschreitungen oder persönlichen Werteverletzungen. Scham ist etwas, dem wir ausgesetzt werden, ohne diesen Affekt aktiv verantworten zu können. Schämen wir uns, wünschen wir uns jemanden, der uns die Scham nimmt.

Und Gott der HERR machte Adam und seiner Frau Röcke von Fellen und zog sie ihnen an. (1. Mose 3, 21)

Gott nimmt die Situation, in der sich Adam und Eva befinden, ernst. Bevor er ihren Gesetzesbruch sanktioniert, wendet er sich ihnen in einem Akt der Nächstenliebe zu und schafft ihnen Abhilfe aus ihrer schamvollen Situation: Denn solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert, weil wir lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden wollen. Das Los, welches die Bibel in dieser wunderbaren Geschichte vom Fall des Menschen aus dem göttlichen Garten fasst, teilen wir jedoch bis heute:

Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens. (1. Mose 3, 24)

Wir kommen nackt auf die Welt, liebe Gemeinde, und setzen danach alles daran, nie wieder gegen unseren Willen nackt zu sein oder nackt gemacht zu werden. Wir kleiden uns ein, wir bauen feste Häuser, in denen wir Schutz suchen können. Wir legen psychische Panzer um unser Innerstes, um wenigstens dieses nicht nach außen kehren zu müssen. Und trotzdem bleiben wir nackt und verletzlich in dieser Welt. Selbst das tiefste Vertrauensverhältnis kann erschüttert werden, die größte Liebe enttäuscht werden. Dann ist unsere Existenz fragmentiert und wirkt so zerbrechlich, als wären wir nur ein Hauch auf dieser Welt. 

So sind wir denn allezeit getrost und wissen: Solange wir im Leibe wohnen, weilen wir fern von dem Herrn; wir sind aber getrost und begehren sehr, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn. (2. Korinther 5, 6)

Paulus unterscheidet zwischen dem irdischen Leben und dem ewigen Leben. Das irdische Leben ist fern von Gott. Uns bleibt nur der Glauben an Gott und seine Liebe zu uns. Es ist keine direkte Nähe zu Gott möglich, kein Schauen. Unsere Beziehung bleibt fragil und bruchstückhaft. Wir sehen ihn nicht. Darum ist das irdische Leben grundsätzlich nicht das, das wir uns wünschen. Paulus aber versagt sich nicht dem irdischen Leben. Er vertritt keine Ethik des Verzichts und der Entsagung.

Wir wollen, dass wir lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden wollen, damit unser Sterbliches verschlungen wird. (2. Korinther 5, 4)

In dieser Aussage steckt kein Todeswunsch, sondern die Akzeptanz der irdischen Unvollkommenheit. Paulus billigt einen realistischen Blick auf die menschliche Existenz. Damit nimmt er ernst, dass wir unser Leben so angenehm wie möglich gestalten wollen. Wir wollen nicht frieren. Wir wollen dem Schmerz und der Trauer aus dem Weg gehen. Und wenn sie uns treffen, wollen wir uns Linderung verschaffen. Alles, was unsere sterbliche Existenz ausmacht, wollen wir mit Leben füllen, mit Spaß, Freude, angenehmen Erfahrungen. Wir wollen den im paulinischen Denken so genannten Schmerz über die leibliche Existenz erträglich machen. Wir wollen die Sterblichkeit vom Leben verschlungen sehen. Paulus nimmt existenzielle menschliche Bedürfnisse ernst, ohne sie zu überhöhen. Er stellt unser Leben jedoch in die Perspektive der Ewigkeit, in der wir alle unserem Schöpfer entgegentreten müssen.

Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf dass ein jeder empfange nach dem, was er getan hat im Leib, es sei gut oder böse. (2. Korinther 5, 10)

Das Gericht als Ort der Selbstoffenbarung: Wir stehen nackt davor und müssen Zeugnis über unser Innerstes ablegen, über das Leben, das wir gelebt haben: Finster waren die Vorstellungen des Mittelalters, die Hieronymus Bosch auf Leinwand gebannt hat und die selbst einen Luther geängstigt haben: Ich bin getauft, soll er vor sich auf den Tisch geschrieben haben. Verbunden mit seiner Rechtfertigungslehre bleibt uns Protestanten die Gewissheit, dass wir gerechtfertigt sind. Gott hat sich bereits unser angenommen. Diese Gewissheit befreit uns zum Handeln nach Christi Vorbild. Das große Gericht, der Tag des Herrn, die Offenbarung aller Dinge, die da kommen wird: Das ist kein Bild, dass uns schrecken muss! Wir sind getauft, wir bekennen unseren Glauben an Gott, der uns wie ein Vater und eine Mutter angenommen hat und wir handeln in diesem Wissen. Es wird offenbar, was wir getan haben, schreibt Paulus. Er weiß nicht, was danach mit uns passiert. Aber er weiß um die Verheißung auf eine neue Schöpfung und die Hoffnung, die sich mit ihr verbindet: Dass unsere nackte Existenz durch Gott, der uns wie Vater und Mutter ist, neu eingekleidet wird.

Das, was Paulus hier im zweiten Korintherbrief beschreibt, könnte man als nichts anderes beschreiben als unsere Hoffnung auf die Umkehr in den Zustand aus der Geschichte vom Garten Eden: Ein Ort ohne Gewalt, ohne Mühe, ohne Schmerz in einer Lebensgemeinschaft unmittelbar mit dem Schöpfer.

Als ich letzten Dienstag nach dem Laternenfest in der Markuskirche nach Hause gelaufen bin, war es ein klarer, kalter Novemberabend. Mein Fahrradlicht war kaputt. Deshalb musste ich schieben. Ich habe es sehr genossen. Hinter dem Bundessozialgericht bin ich den langgezogenen Berg beim Aschrottpark hochgelaufen. Da kamen mir zwei Radfahrer entgegen, die – vollbeleuchtet – fröhlich den Berg runtergesaust sind. Sie waren schnell vorbei, aber ich hörte den einen zum anderen die alte Radlerweisheit sagen: „Denk dran, immer wenn es einen Berg runter geht, geht es auch wieder rauf.“ Vielleicht ist es so einfach mit der göttlichen Realitätsverschiebung, mit dem Leib-Seele-Dualismus, mit dem irdischen Los und dem himmlischen Leben: Erst geht es runter, dann geht es hoch. Und umgekehrt natürlich. Es ist wohl einfach das Andere von dem, was wir gerade haben. Und dafür haben wir zu strampeln.

Und der Friede des Herrn, welcher höher ist als alle Vernunft, begleite eure Wege in Christus Jesus, Amen.