Gottesdienst an Neujahr zum Nachlesen und Hören

Hier können Sie den Gottesdienst vom 1.1.2021 mit Pfr. Till Jansen und Organist Oliver Vogeltanz lesen und hören:

Eingangsliturgie
Predigt
Ausgangsliturgie

Predigt an Neujahr von Pfr. Till Jansen, Markuskirche Kassel

„Liebt eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen, segnet die euch verfluchen, bittet für die, die euch beleidigen, Backe hinhalten, Mantel geben, verleihen ohne zurückzufordern, … seid barmherzig.“ 

Liebe Gemeinde, 

das sind keine Kleinigkeiten zu Beginn eines neuen Jahres und das nach einem Jahr voller Sorgen und Einschränkungen. Von allen Seiten wird Solidarität verlangt und gleichzeitig Distanz, wir haben Klopapiereinkäufe und Hamstereinkäufe absurden Ausmasses erlebt und gleichzeitig Wellen großer Anteilnahme, größten Verständnisses und großer Hilfsbereitschaft. 

Die Menschen, die uns auf der Straße, bei der Arbeit und im Supermarkt begegnen, sind vielleicht nicht unsere Feinde, aber jeder und jede könnte infiziert sein: Also ist Vorsicht geboten. Die echten Feinde sind entweder sowieso auf Distanz, dann kümmern sie mich gar nicht mehr, oder sie sind im selben Haus, dann ist alles noch viel schlimmer als vorher, denn dann kann man ihnen kaum entfliehen.

Momentan haben sehr viele Menschen das Gefühl, dass sie ihre Backe hinhalten – weil sie ihr Geschäft schließen mussten und keine Einnahmen mehr haben, weil sie unter höchster Anspannung arbeiten müssen in Kitas und Schulen und Krankenhäusern und in der Pflege, weil sie ihre Liebsten nicht sehen dürfen am Fest und zum Jahreswechsel, weil ihnen nach Kurzarbeit Entlassung droht. Und dann noch die andere Backe hinhalten? Und dazu noch den Mantel geben zusätzlich zum Rock und darüberhinaus Dinge verleihen, auch wenn wir nicht wissen, ob wir das Verliehene je wiedersehen? Die Kinder in den Familien werden ungeduldig und sauer, weil sie kaum Freunde treffen können, keinen Sport haben, keine Musik, keine Kindergeburtstage, keine Oma und kein Opa, und wenn, dann nicht richtig, und die Eltern werden ungeduldig und blaffen sie an, die Kinder blaffen zurück.

Seid barmherzig…

 Am Ende diesen Jahres sind wir alle ziemlich müde. 

Der Lockdown wird wahrscheinlich noch viel länger dauern als wir es uns jetzt vor Augen stellen wollen, von Normalität keine Spur und auch vorerst nichts in Sicht. 

Im Gegenteil: Die Sorgen wachsen. 

Seid barmherzig. Das auch noch … 

Und soll ich Ihnen etwas verraten? Jesu Predigt und Mahnung ist noch nicht vorbei. Er fährt fort: 

„Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. 38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.“

Dieser letzte Satz klingt wenig aufbauend – eher wie eine Drohung. Denn so sind wir Menschen eben allzugern – dass wir andere richten, verdammen und das Vergeben uns schwer fällt, erlebt man nur allzu oft, eben auch an sich selber. 

„Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen. Was nennt ihr mich aber Herr, Herr, und tut nicht, was ich euch sage?“

Seid barmherzig.  

Das ist ersteinmal kein besonders wohltuender Text zu Beginn dieses neuen Jahres, oder? 

Wenn Sie auf die Karte schauen, die Sie am Eingang erhalten haben, dann sehen Sie vielleicht etwas ganz anderes als die Überforderung, die Jesus uns mit seinen Forderungen auferlegt. 

Vielleicht ist das Bild für die Jahreslosung von Stefanie Bahlinger nicht jedermanns Geschmack, wie bei allen Bildern, aber die Sprache des Bildes wirkt doch eher bergend und behütend als überfordernd. 

Ein Mensch, ein Kind oder ist es ein Brot? liegt gebettet und getragen von warmen Farbtönen in der Mitte des Bildes. Licht liegt wie ein heller gotischer Bogen über ihm. 

Das ganze wird gerahmt von einem filigranen, einfachen Haus, in dem innen nicht alles klar und geordnet ist, dafür sind die Linien zu verzweigt und verworren. Aber das bergende und zugleich öffnende wird durch diese Linien nicht zerstört. Sie gehören irgendwie dazu wie Lebenslinien einer Hand. In der Weihnachtszeit denke ich an das Kind in der Krippe, den hellen Schein des Weihnachtsfestes in dunkler Nacht, die Farben deuten auf Pfingsten und das Wirken des Heiligen Geistes, die Decke des Kindes wie ein Hinweis auf das Brot des Abendmahls oder das Kreuz. 

Die Künstlerin hat offenbar gar nicht so sehr den Auftrag gehört: Seid barmherzig. Man sieht eher den zweiten Satzteil: „wie auch euer Vater barmherzig ist.“ 

Zwischen diesen fordernden Sätzen Jesu, die uns in ihrer Radikalität und in ihrer Aneinanderreihung schier unerfüllbar scheinen, zwischen diesen Drohungen von Gericht und auch Enttäuschungen Gottes über den Menschen, klingt dieser Satz in der Tat wie ein Fluchtpunkt, der beruhigt und behütet: … wie auch euer Vater barmherzig ist. 

In Gottes Barmherzigkeit möchte man sich fliehen angesichts der Forderungen und Überforderungen, wie in ein warmes Nest. Gott ist barmherzig – er vergibt, er hat Mitleid mit uns, wenn wir schuldig werden, wenn wir scheitern. Erbarmen – das bedeutet, dass Gott die Schuld sehr wohl sieht und dennoch liebt, dass er das Unvollkommene annimmt als das Kostbarste Gut, dass er gute Absichten wertet, auch wenn das Ergebnis Leid verursacht, dass er die Reue sieht und das Leiden an Schuld, die man zu zeigen sich nicht traut. 

Das klingt immer noch nicht so, als wären wir von uns aus die Frauen und Männer der Stunde, die die Welt aus eigener positiver Kraft erlösen könnten. Und das wird dem christlichen Glauben immer wieder mal vorgeworfen, dass er den Menschen so klein macht und duckmäuserisch, wie eine Negativfolie zu den Fähigkeiten, die er in sich und von sich aus eigentlich entfesseln könnte. 

Oder aber: Anstatt zu handeln und das Richtige zu tun, verkriechen wir uns in dieses warme Nest der Gottesbarmherzigkeit! Ich tue lieber nichts, aber auch das wird Gott mir verzeihen, weil er weiß, dass ich schwach bin. 

Liebe Gemeinde, ich glaube, dass beides nicht stimmt. 

Ja, wir brauchen das warme Nest, die Vergewisserung von Gottes Barmherzigkeit, das Geborgene und Behütete, die Verheißung einer guten Zukunft, die wir nicht selbst erschaffen. Wir brauchen das für das Überleben unserer Seele, davon bin ich überzeugt. Wir brauchen es, damit wir nicht aufhören zu leben und zu handeln, Ziele zu haben und dabei Fehler zu machen. 

In das Bild von Stefanie Bahlinger würde ich gern noch eine Tür zeichnen aus dem Haus des Eigenen hinaus zum Anderen und zur Welt. 

Denn diese ganzen Forderungen bleiben bestehen: Liebt eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen, segnet die euch verfluchen, bittet für die, die euch beleidigen, Backe hinhalten, Mantel und Rock geben, verleihen ohne zurückzufordern, … seid barmherzig, richtet nicht, vergebt. 

Gottes Barmherzigkeit ist wie eine Kraftquelle, die uns all diese Überforderungen versuchen lässt, … ja, in dem Wissen, dass wir es nicht schaffen, aber auch in dem Wissen, dass es richtig ist und wir anderes zugemessen bekommen als allein das von uns Errechnete. 

Ich glaube, dass dieser Satz der Jahreslosung uns in diesem neuen Jahr wichtig sein muss: In einem Jahr, dass die Folgen der Pandemie weiter spürbar machen wird, in dem wir aufeinander angewiesen sind in Nächstenliebe und Solidarität, in dem wir neue Herausforderungen erleben werden, die gemeinschaftliche, ja sogar globale Lösungen brauchen, in dem wir die Ressourcen anders verteilen müssen als nur nach dem Maßstab des Wettbewerbs und der Macht, sei es in Bezug auf Impfstoffe, auf Energie, auf Wissen, auf Rohstoffe, Natur und menschliche Kraft.  

Seien wir barmherzig, gegen uns selbst und gegen andere, wie auch Gott barmherzig mit uns ist. 

Amen

Pfr. Till Jansen, Markuskirche Kassel