Gottesdienst am 23.08.2020 zum Nachlesen und Nachhören

Markuskirche Kassel, Pfr. Jansen und Lektor Geydan, Organist Oliver Vogeltanz

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Predigt
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Predigt zum Gottesdienst am 23.06.2020, Markuskirche Kassel, Pfr. Dr. Till Jansen

Liebe Gemeinde, 

am letzten Sonntag haben wir einen Predigttext gehört, bei dem sofort klar war, dass es ein schwieriger Text ist. Typisch Paulus eben: Verschachtelt, lange Sätze, schwierige Begriffe und Grammatik, komplizierte und fremde Gedankengänge – eben ein echter Brocken, ein Text, den man mehrmals lesen muss, um ihn zu verstehen. 

Wenn Jesus redet, dann ist das meistens anders. Er benutzt eine einfache Sprache, einfache Bilder und Geschichten, die jeder sofort versteht. So auch bei der folgenden kleinen Szene, die Jesus erzählt. Leicht nachzuvollziehen, kurz, einleuchtend und erhellend. 

Wir hören Lukas 18, 9-14 

„Jesus sagte aber zu einigen, die überzeugt waren, fromm und gerecht zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis: 10 Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. 11 Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. 12 Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. 13 Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! 14 Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“

Dieser Text ist wirklich nicht so schwierig, oder? 

Dieser Pharisäer ist eindeutig unsympathisch: Er ist arrogant, ohne jedes Einfühlungsvermögen, angeberisch und über alle Maßen selbstgerecht. Fallen ihnen so Menschen ein? Menschen mit Macht und Einfluß, die nie im Leben einen Fehler eingestehen würden? Im Gegenteil, sie würden auch noch die größte Katastrophe ihres Handelns und Redens als Heldentat darstellen, als souverän und großartig? The best I ever did, the greatest speech in history? 

Mir fallen Menschen ein, deren unglaubliche  Selbstüberschätzung gepaart mit Macht alle Zeichen einer narzistischen Persönlichkeitsstörung aufweisen, die sie nie im Leben selbst bemerken können. 

Zum Glück bin ich, sind wir, nicht so wie diese Menschen! 

Gott sei dank sind wir ganz anders als sie! 

Oh je, jetzt klinge ich schon wie der Pharisäer. 

Vergessen Sie lieber was ich gerade gesagt habe. Ich fange lieber nochmal anders an, von vorne: 

Liebe Gemeinde, dieser Text ist wirklich nicht so schwierig, oder? 

Wer sollte nicht sofort mitleid haben mit dem armen Zöllner! Verachtet von allen, schuldzerfressen, nicht einmal fähig, die Augen zum Himmel zu erheben: ganz gebückt steht er da, voller Selbstzweifel. Ich habe Mitleid mit ihm. Auf eigentümliche Weise ist er mir sympathisch. Er erkennt, dass er ein fehlerhaftes Leben führt, er zeigt Reue und sehnt sich nach nichts mehr, als nach Vergebung, nach Integrität und Heilung, nach Zuwendung. Er will so gerne hören, dass er gemocht wird, dass wenigstens Gott an seiner Seite ist. Wer könnte das nicht verstehen?

Und zugleich bewundere ich diesen Menschen. Seine Aufrichtigkeit vor Gott und seine Demut wird von Gott reichlich belohnt: er geht als Gerechter nach Hause! Mag die Welt noch so um ihn toben – Gott steht an seiner Seite. Gott wird ihn ins Himmelreich aufnehmen, in die vollkommene Glückseligkeit und Versöhnung. Das berührt mich und weckt Sehnsucht. Ich denke an die Dinge, die mir im Leben schwer fallen, die mich belasten, weil auch ich schuldig geworden bin und darunter leide. Auch mir widerfährt Anfeindung und auch ich stehe in Konflikten. 

Das Gute ist jetzt, nach dieser Erzählung, dass ich weiß, was ich tun kann. Ich stelle mich „aufrichtig“ vor Gott und sage ihm ganz ehrlich bereuend, was ich an schlechtem in meinem Leben finden kann – dann gehe ich als gerechtfertigter nach Hause. 

Jesus hat mir ja gesagt, wie es funktioniert. Aufrichtig bereuen, weinen und gerechtfertigt nach Hause gehen. 

Gott sei dank, dass ich kein Pharisäer bin, der das weder weiß noch kann, gut, dass ich anders bin als er.

Da ist es mir schon wieder passiert. Vergessen Sie das. 

Ich fange lieber nochmal anders an. 

Also von vorne.  

Liebe Gemeinde, dieser Text ist wirklich nicht so schwierig, oder? 

Ich versetze mich mal in den Pharisäer und erzähle aus seiner Sicht: 

Mein Leben habe ich Gott geweiht. Von Kindheit an habe ich mich bemüht, nach Gottes Willen zu leben, nach seinen Geboten. Ich gebe mir die allergrößte Mühe, die Heiligen Schriften zu verstehen. In Psalm 1 heißt es: 

Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen / noch tritt auf den Weg der Sünder noch sitzt, wo die Spötter sitzen, 2 sondern hat Lust am Gesetz des HERRN und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht! 3 Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, / der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht. Und was er macht, das gerät wohl.

Diese Verse sind Leitlinien für mein Leben, sie sind meine ganze Hoffnung. Was für eine Verheißung: … wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen. 

Aber dies zu tun erfordert viel Kraft und Entbehrung. Wievielen Versuchungen habe ich widerstanden, wieviele Stunden murmelnd über den Heiligen Schriften verbracht, wieviel Gedanken habe ich mir über Gott und sein Gesetz gemacht. Zahllose Schriften habe ich verschlungen, in der Hoffnung, Gottes Welt zu verstehen. Ich habe Sünden gemieden, Gottlosigkeit verurteilt, die Spötter gemieden. 

Und nun bin ich das geworden, wovon ich immer geträumt habe: ein Pharisäer, ein Schriftgelehrter, ein Weiser deines Wortes, Gott. Damit bin ich reich beschenkt worden von dir, Gott, denn du gibst mir mit deinem Wort die Kraft, für dich zu leben, nicht allein in meinem Dienst, dein Wort anderen nahezubringen und für ihr Leben zu deuten, sondern auch mit meiner ganzen Lebensführung. Ich lebe wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen – ich lebe aus dir und für dich und nicht für das schnelle Geld auf Kosten anderer wie dieser schuldzerfressene Zöllner dort. Das ist dein Verdienst, Gott, denn du gibst mir dafür die Kraft. 

Gepriesen seist Du, mein Gott, dass du mir Leben schenkst und Kraft zur Gerechtigeit!

… und diesem Menschen sage ich jetzt: Du hast deinen Lohn schon gehabt! Nicht gerecht vor Gott. 

Darf ich das, der ich mich selbst so verrenne und verirre und es nicht einmal merke?

Und was, wenn der Zöllner nach Hause geht und seine Reue gleich wieder vergisst. Was, wenn er, Gewohnheitstiere, wie wir alle es sind, seinem schlechten Ruf schon am nächsten Tag wieder alle Ehre macht und den Leuten bei weitem mehr Geld abnimmt als es die Römer verlangen? Was, wenn er es gar nicht gemerkt hat, dass Gott ihn gerecht spricht, wenn er es in den Wind schlägt und weiterhin auf die verachtenden Blicke der Landsleute mit Verachtung reagiert? Sie behandeln mich schlecht, ich zahle es ihnen zurück … oder besser: sie zahlen es mir zurück. Damit kann ich wenigstens gut leben. Mir bleibt ja keine Wahl. 

Liebe Gemeinde, 

wie ich die Erzählung Jesu auch drehe und wende – sie wird nicht einfach. Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden – davor ist mir bange, denn das tue ich. Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden – darauf kann ich hoffen, denn das tue ich auch. Manchmal erniedrigen wir uns, wo wir es nicht tun sollten. Wir können was, und das müssen wir auch dürfen. Wir brauchen das Gefühl, die Sicherheit, dass wir etwas können, dass wir etwas wert sind  aus uns selbst heraus, sonst stecken wir gelähmt und mutlos in Depressionen fest. 

Demut zu praktizieren, um damit etwas zu erreichen, ist verlogen. Wie kann man aufrichtig sein vor Gott, wenn man bei allem bemühen um Aufrichtigkeit weiß, dass man durch Demut und Selbsterniedrigung gerecht gesprochen wird? Auch Selbsterniedrigung kann übrigens psychologische Gewalt ausüben gegenüber anderen Menschen und kann ein schwerwiegendes Druckmittel sein. 

Zu diesen ganzen inhaltlichen Schwierigkeiten mit dieser Erzählung kommt noch ein textgeschichtliches Problem: Das Lukasevangelium kommt aus einem heidenchristlichen Umfeld, das das Judentum für überwunden und überboten hält. So wie der Pharisäer dargestellt wird, ist er schon eine exemplarische Figur: So wie er wollen wir nicht sein! 

Wie also umgehen mit diesem Text, der doch nicht so einfach ist? Ich knüpfe widerum an letzten Sonntag Sonntag an, wo Lutz Geydan in seiner Predigt gesagt hat, dass Unterscheidungen in Schwarz und Weiß, dass einfache Lösungen und Antworten nicht weiterhelfen. Wir sind weder allein der Pharisäer, noch können wir allein der Zöllner sein. Man kann nicht für einen sich entscheiden, denn wir sind immer beides. Weder sich ausschließlich zu erhöhen noch sich zu erniedrigen ist sinnvoll. Daher kann es auch keine reine Wende bei Gott geben, auch wenn Lukas aus Sicht der Benachteiligten schreibt und für sie hofft, dass Erniedrigung von Gott zur Herrlichkeit geführt wird. 

Wir sind keineswegs eindeutig auf einer Seite, so wie Luther es formuliert hat: Wir sind Sünder und Gerechte zugleich. Das fordert Mut, denn wir sind gehalten, ungeschönt auch auf die Schattenseiten unseres Lebens zu schauen, das fordert Vertrauen, denn in aller Zerrissenheit können wir uns der Gerechtsprechung gewiß sein. 

Und es fordert etwas drittes: Wenn wir uns selbst schon nicht in eines der beiden Lager einordnen können, dann können wir das erst recht nicht bei anderen. 

Das können wir vom Zöllner lernen: Er bleibt vor Gott bei sich und seinem Glauben, seinem Verhältnis zu Gott ohne andere zu verurteilen. Das ist komplex genug. 

Amen