Gottesdienst am 16.08.2020

Markuskirche Kassel, Lektor Lutz Geydan und Pfr. Till Jansen, Kantor Juergen Bonn

Hier können sie den Gottesdienst anhören :

Eingangsliturgie
Predigt
Ausgangsliturgie

Hier finden Sie die Liturgie zum Gottesdienst zum Nachlesen:

Hier können Sie die Predigt nachlesen:

Liebe Gemeinde, 

der Israelsonntag, den wir heute feiern, stellt uns in unserm Denken und Glauben immer wieder vor einige Herausforderungen. So viele Ebenen spielen für uns eine so große Rolle – politisches, geschichtliches, theologisches, persönliche Prägung und Überzeugung – und das alles eng miteinander verwoben, dass es schwer fällt, das Verhältnis von Juden und Christen, von Deutschen und Israelis zu beschreiben. Das Bild vom Baum, seinen Wurzeln und ausgerissenen und aufgepfropften Zweigen (Römer 11, 17+17), mahnt uns Christen, an die Geschichte Gottes mit seinem Volk zu denken, uns an die Wurzel unseres Glaubens zu erinnern, es mahnt zu Demut. 

Der Text, der bei Paulus direkt auf das Bild des Ölbaumes folgt und der heute unser Predigttext ist, beschreibt auch ein kompliziertes Verhältnis von Juden und Christen, ein Verhältnis größter Nähe und großem Konflikt gleichzeitig, wie bei Geschwistern, die es nicht immer einfach miteinander haben. 

Paulus versucht als ehemaliger Oberer der Juden und als größter christlicher Missionar das Verhältnis von Juden und Christen vor und mit Gott zu beschreiben. Dieser Text hat so viele Ebenen und Facetten, dass Lutz Geydan und ich beschlossen haben, nur ein paar wenige Schlaglichter auf diesen Text zu werfen, in der Hoffnung, dass diese Schlaglichter zum Weiterdenken und Weiterdiskutieren anregen. 

Wir hören auf den Predigttext aus dem Römerbrief, Kapitel 11, die Verse 25-32. 

25 Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist;  26 und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob.  27 Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.« 28 Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. 29 Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.  30 Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, 31 so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. 32 Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

GEHEIMNIS UND GESCHICHTE

Ich will euch dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht für klug haltet. Das Verhältnis von Juden und Christen: ein Geheimnis. Paulus möchte dieses Geheimnis beschreiben, damit sich die christlichen Geschwister nicht für klug halten. 

Er stellt uns einen Ablauf von Ereignissen vor Augen: Ein Teil Israels ist verstockt bis die Fülle der Heiden zum Glauben gekommen ist. Erst dann kommt auch ganz Israel wieder zum Glauben, so dass am Ende sowohl die Fülle der Heiden als auch ganz Israel glaubt. 

Das klingt nach einem geschichtlichen Plan, den man aktiv vorantreiben könnte und irgendwie passt das auch in die Lebensgeschichte des Paulus. Er ist als ehemaliger Jude, als einer, der von sich selber sagt, er sei verstockt gewesen, nun unterwegs, um die ganze ihm bekannte Mittelmeerwelt zu Christen zu machen. 

Ist das der geheime Plan Gottes oder ist das die Hoffnung des Paulus? Die christlichen Gemeinden wuchsen zwar schnell. Aber im großen römischen Reich waren sie dennoch vorerst eine Randerscheinung. Auch zu Paulus Zeiten war die Bekehrung aller Menschen mit ihren unzähligen Herkünften und Kulten eigentlich utopisch. Heute gibt es in allen Völkern Christen. 30 % der Weltbevölkerung sind Christen und 0,2% Juden. Aber sagt das etwas aus? Nein, eher nicht. Um Zahlenverhältnisse kann es bei Gottes Plan kaum gehen. Bei aller Leidenschaft für den eigenen Glauben: Die Idee, mit der Weltmission auch das Judentum zu gewinnen ist keine gute Idee. Denn das wäre ein Verhältnis, das durch Macht und Masse erdrückt, Menschen instrumentalisiert und würde davon ausgehen, dass die Mehrheit recht hat. 

Gottes Geheimnis bleibt Gottes Geheimnis. Es wird sich nicht durch die Geschichte und Zahlen auflösen und umsetzen lassen, sondern erst in seiner eigenen Wahrheit, die uns wie allen anderen erst die Augen öffnet. So lasst uns erzählen von unserem Glauben, aber auch den Glauben anderer respektieren. 

VERSTOCKUNG

Liebe Gemeinde, Paulus schreibt, dass er ein Geheimnis nicht für sich behalten will. Er schreibt, dass die Gemeinde sich nicht selbst für klug halten soll. Sie soll wissen, wo sie steht, meint er wohl damit.

Er sagt, dass einem Teil Israels Verstockung widerfahren ist. Verstockung.

Kennen Sie diesen Begriff? Nutzen Sie ihn in Gesprächen? Denken Sie diesen Begriff ab und an?

In der Bibel – im Alten wie im Neuen Testament – spielt der Begriff einige Male eine Rolle:

Es wird der Zustand eines Menschen beschrieben, der gegenüber Gott verschlossen ist bzw. der nicht mehr zu Gott umkehren kann.

Im Alten Testament wird z.B. berichtet, dass der Pharao von Ägypten verstockt ist, weil er das Volk Israel nicht aus der Gefangenschaft ziehen lassen will. Bezeichnend ist, dass die Verschlossenheit des Pharao aus seinem eigenen Willen, wie auch aus dem Willen Gottes resultiert:

Weil sich der Pharao beharrlich weigert anzuerkennen, dass Gott sein Volk aus Ägypten führen will, lässt Gott eine spätere Umkehr nicht mehr zu und gibt den Pharao seinem eigenen Willen und den Folgen preis.

Für Paulus, im Neuen Testament, steht die Verstockung für die Bindung des Menschen an seine Verantwortung, obwohl sich Gott durch Jesus Christus in dieser Welt sichtbar gemacht hat. Anstatt sich Gott zuzuwenden, lehnt der Mensch ihn ab und gestaltet sein Leben nach eigenen, verirrten Vorstellungen.

Besonders schwierig ist für Paulus, dass das Volk Israel sich trotz der Hinwendung Gottes zu seinem Volk gegenüber dem Heilsplan durch Jesus Christus anscheinend nicht öffnet. Eine Verstockung des Volkes – wenn auch für eine begrenzte Zeit – ist für ihn eine mögliche Erklärung, weshalb sein Volk sich Gott nicht in Christus zuwendet.

Besonders irritierend ist, dass nicht nur beim Pharao, sondern auch hier im Predigttext, die Verstockung einerseits auf dem Willen der Menschen selbst beruht, andererseits aber durch Gott weiter verstärkt, ja sogar hervorgerufen wird.

Und Paulus beschreibt es hier im Predigttext ja eher so, dass die Verstockung Voraussetzung dafür ist, dass die Menschheit, also auch das Volk Israel, endgültig zum Glauben kommt, so wie die Verstockung des Pharao Voraussetzung für die Befreiung des Volkes aus Ägypten war.

Schwierig. Konnte das nicht sofort passieren? Hätte Gott den Ägyptern die Plagen die er ihnen schickte, nicht ersparen können?

Vielleicht ist das, klingt das komplexer, als es in Wirklichkeit ist.

Gott zeigt sich uns, gibt uns die Möglichkeit, seine Liebe, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu erkennen, wahrzunehmen. Aber das ist ein umfängliches, umfassendes und wunderbares Angebot, dass Offenheit und Wahrnehmung voraussetzt. Dieses Angebot in Liebe ist unverbrüchlich und immer da, wenn wir aber eigene, andere Wege gehen wollen, wenn wir uns von Gott entfernen, dann ist das unsere Entscheidung.

Der Begriff der Verstockung zeigt uns, dass wir mit Themen wie Gut und Böse, Schuld, Verantwortung, Liebe und Hass, sorgsam umgehen müssen und das glatte und schnelle Antworten uns nicht weiter bringen, oder zu vorschnellen Urteilen führen.

Liebe Gemeinde,

Ich bin überzeugt, Verstockung zu überwinden, oder einen falschen Weg zu verlassen, Gewohnheiten zu überdenken und neue Wege zu gehen, das ist schmerzhaft.

Und ich frage mich in diesem Zusammenhang, wo stehen wir eigentlich heute in Kirche und Gemeinde?

Sind wir auf dem richtigen Weg? Sind wir als Gemeinden, als Christinnen und Christen frei von Verstockung? Sind wir das Gegenteil von dem, was wir unter Verstockung verstehen? Sind wir offen für die Veränderungen, die Kirche in naher Zukunft wohl angehen muss? Wo stehen wir, in unseren Gewohnheiten, in unseren Traditionen, in unserem Miteinander? Halten wir uns für klug, oder reflektieren und überdenken wir uns regelmäßig?

Ich glaube, es gibt für jede und jeden von uns Begegnungen mit Menschen oder Gruppen in unserer Kirche, die uns beides erleben lassen. Manchmal scheint es mir, als seien wir etwas starr und unbeweglich, ganz so wie Paulus das Volk Israel hier beschreibt. Dann frage ich mich, ob es uns mehr um die Botschaft geht, oder um die Selbsterhaltung unserer Institutionen, unserer Gebäude, Traditionen oder Sicherheiten.

Aber ich weiß, unter anderem durch die Geschichte des Volkes Israel, dass Gott uns wenn wir uns verlaufen haben, oder in manchen Zeiten nicht offen für ihn sind, wenn wir zu ihm zurückkehren wie einen verlorenen Sohn immer wieder aufnehmen wird und dass wir seine ausgebreiteten Arme von überall aus sehen können.

PERSPEKTIVEN

„Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen.“ 

Noch einmal ein Versuch des Paulus, das Geheimnis des Verhältnisses zwischen Christen und Juden zu beschreiben. Diesmal nicht mit einer geschichtlichen Entwicklung, dir zum gemeinsamen Glauben führt, sondern sozusagen im „Ist-Zustand“. 

Feinde und Geliebte – gleichzeitig, je nachdem aus welcher Perspektive Paulus schaut. 

In den Konflikten um den Glauben hat Paulus manche Juden als Feinde erlebt, sogar sich selbst, weil er von sich sagt, er habe die Christen verfolgt. Nun ringt er mit ihnen in den Synagogen, er ringt mit Judenchristen um die Heidenmission, er ringt um die Themen Beschneidung und Gesetze, er versucht zu vermitteln in gemeindlichen Konflikten zwischen Judenchristen und Heidenchristen. Er kümmert sich um die Heidenchristen, die alle jüdischen Wurzeln des Christentums mißachten, er kümmert sich um die Judenchristen, die die Heidenchristen nicht anerkennen wollen. Er verzweifelt darüber, dass viele Juden seine Glaubenserkenntnis nicht teilen wollen und Christus ablehnen. Er erlebt Feindschaft von vielen Seiten, wenn er auf das Evangelium schaut, das von der Rechtfertigung allein aus Glauben, allein durch Christus erzählt. 

Und zugleich weiß er, dass Gottes Berufung ihn nicht gereuen kann. Diese Menschen, die seinen Glauben nicht teilen wollen, sind von Gott geliebte Menschen, sie bleiben von Gott geliebte Menschen, sie werden es immer bleiben. Diese Gleichzeitigkeit kann Paulus nicht auflösen es sei denn durch die Hoffnung, eine gemeinsame Zukunft zu haben, wie auch immer diese aussehen mag. Diese Gleichzeitigkeit ist für mich wie ein Sinnbild von Gottes Liebe, die auch für mich etwas tröstliches hat. In der Taufe hat Gott mich berufen zu seiner Gemeinde. Daran hält er sogar dann fest, wenn ich mich abwende, Herz und Ohren verschließe, oder wenn ich mich in meinem Glauben verrenne und verirre. Wenn er mich zu sich zurückführt, werde ich ganz neu verstehen und glauben. Darin, in die Liebe Gottes, will ich lieber vertrauen, als in die Überzeugung, ich hätte Recht. 

Der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen