Gottesdienst am 14. Februar 2021 (Estomihi) zum Nachlesen und Anhören

Hier können Sie den Gottesdienst mit Pfrin. Ohlwein und Organist Oliver Vogeltanz anhören:

Eingangsliturgie
Predigt
Ausgangsliturgie

Hier können Sie die Predigt nachlesen:

Predigt: Jesaja 58.1-9 Pfrin.. Irmhild Ohlwein; Kassel

Gnade sei mit euch, und viel Barmherzigkeit und Frieden und Liebe. Amen!

I.

Liebe Gemeinde,

morgen, am Rosenmontag vor einem Jahr, am 24. Februar 2020, 14.30 Uhr in Volkmarsen war es, da lenkte der 29-jährige Volkmarser Mitbürger Maurice P. seinen silbernen Mercedes vorsätzlich in eine Gruppe von Zuschauern des Rosenmontagszugs. 154 Menschen, davon mindestens 20 Kinder, das jüngste drei Jahre alt, wurden dabei körperlich und seelisch verletzte.

Versuchter Mord und gefährliche Körperverletzung in vielfachen Fällen bedeutet dies. Warum der junge Volkmarser mit seiner Amokfahrt auf friedlich feiernde Menschen losging, darüber schweigt er bis heute.

5 Tage zuvor in Hanau, am 19. Februar 2020, da ermordete der 42-jährige Hanauer Tobias Rathjen insgesamt zehn Personen im Alter zwischen 21 und 37. In und vor zwei Shisha-Bars erschoss er neun Menschen mit Migrationshintergrund. Danach in der elterlichen Wohnung auch seine Mutter und sich selbst.

Mindestens fünf weitere Personen wurden nach Angaben des Landeskriminalamtes durch Schüsse des Täters verletzt.
Die 7 jungen Männer und die junge Frau, Mutter von zwei kleinen Kindern, waren entweder in Hanau oder andernorts in Deutschland geboren oder lebten schon länger hier. 5 besaßen die deutsche Staatsbürgerschaft.

Die 72 Jahre alte Mutter des Täters war, wie es heißt, bettlägerig und erhielt mehrmals täglich Besuch von einem Pflegedienst.
Als Terrorakt aus rassistischen Motiven wurde die Tat eingestuft, hervorgegangen aus einer schweren psychischen Störung des Täters, der zuhause seine Mutter pflegte.

1. Juni 2019 in Istha: Der Kasseler Rechtsextremist Stephan Ernst tötete den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) vor dessen Wohnhaus mit einem Revolverschuss aus geringer Entfernung in den Kopf.
Stephan Ernst ist ein bekannter Neonazi aus der Kasseler Szene.

Aus Rassismus und einer völkisch-nationalen Grundhaltung heraus hatte er seinen Ausländerhass zunehmend auf Lübcke projiziert und ihn schließlich erschossen, um ihn für seine Haltung in der Flüchtlingspolitik zu bestrafen und andere von einer „Politik der Weltoffenheit abzuhalten. Am 28. Januar 2021 erst verurteilte das Oberlandesgericht Frankfurt am Main Ernst zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe.

Schlimmste Taten aus mörderischen Gesinnungen und kranken Seelen.
Lange Wege und individuelle Geschichten haben zu diesen Untaten geführt, die wiederum gar nicht einspurig, sondern komplex sein werden.

Auf die Erinnerungen dieser Tage treffen Worte aus dem Predigttext, dieses Sonntages:

Jesaja 58, 1-9:

1 Rufe laut, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden!
2 Sie suchen mich täglich und wollen gerne meine Wege wissen, als wären sie ein Volk, das die Gerechtigkeit schon getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte. Sie fordern von mir Recht, sie wollen, dass Gott ihnen nahe sei.
3 »Warum fasten wir und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib und du willst’s nicht wissen?« Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter.
4 Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll.
5 Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit oder seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der HERR Wohlgefallen hat?
6 Ist nicht das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!
7 Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!
8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen.
9 Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten.

Heilung, Gesundheit wächst auch aus der Zuwendung zu anderen, vor allem aus der Zuwendung zu Menschen, die Mangel haben, ohne Obdach sind, kein Hab und Gut besitzen, sagt uns der Prophet.

Ich stelle mir vor, der Hanauer Attentäter Tobias Rathjen hätte in den Opfern die Gleichaltrigen gesehen, die einem ordentlichen Beruf nachgehen, sich fleißig eine Existenz aufbauen, eine Familie gründen. Ich stelle mir vor er wäre berührt gewesen von den Schicksalen der Familien, bis diese in Hanau Heimat fanden, oder von der Liebe der 35- jährigen jungen Mutter und deutschen Romni Mercedes Kierpacz, und der Schutzlosigkeit ihrer kleinen Kinder.
Und ich stelle mir vor, was ihm selbst an Zuwendung und Anerkennung gefehlt haben mag, dass er so blindwütig wurde.

Ich stelle mir vor, der Volkmarser Maurice P. hätte in den Menschen, auf die er zuraste, die Männer und Frauen aus seinem Heimatort entdeckt, mit denen er vielleicht sogar gerne Kontakt hätte haben können. Oder in den Augen der Kinder die Freude am Leben leuchten sehen, die auch in ihm verborgen ist. Ich wage den Gedanken, ob er, offenbar allein mit seiner pflegbedürftigen Mutter, Begleitung hätte gebrauchen können oder aber abgelehnt hat, was eine Tür aus seiner inneren Enge hätte sein können.

Und Stephan Ernst. Ich stelle mir vor, er hätte unter den Geflüchteten auch die entdeckt, die wegen Bedrohungen in ihrem Land Schutz brauchen und ein faires Asylverfahren. Ich stelle mir vor, er hätte in Walter Lübcke den Politiker entdeckt, der sich auch für seinen Schutz eingesetzt hätte, wenn er selbst ein Fremder wäre. Vielleicht hätte es ihn zurückgehalten,

wenn er empfunden hätte, dass er einer Frau ihren Ehemann, den Söhnen den Vater und den Enkeln den Opa nimmt?
Und ich stelle mir vor, wenn er andere Freunde als Nazis gefunden hätte, die ihn beruhigt hätten, dass ihm seine Heimat nicht genommen wird.

II.

Zuwendung, Achtung vor dem Anderen, sie tragen zum Heilsein und zu Frieden bei.
Dazu mahnt der als Trito-Jesaja benannte Prophet sein Volk Israel in einer tristen Situation. Da geht es nicht um einen Amoklauf, aber um eine schwierige Situation, in der es durchaus zu Gewalttaten kommt.
Nach etwa 50 Jahren Exil in Babylon sind sie im 5.Jh. vor Christus in ihre Heimat zurückgekehrt. Das Unglück ist vorüber, aber nun muss das ruinierte Land aufgebaut werden, Häuser und Straßen, eine schützende Mauer, der zerstörte Tempel – Ort göttlicher Nähe und Zentrum für ihre Opfergottesdienste.
Die wirtschaftliche Lage ist schwierig. Es herrscht Mangel an allem. Da ist jeder sich selbst der Nächste. Die Kluft zwischen Arm und Reich verbreitert sich. Die Ordnungen des Lebens, öffentlich wie privat, gelingen nur ansatzweise und bruchstückhaft.
Durch Fastentage versucht man das Gedächtnis an die Schrecken des Krieges zu bewahren, Umkehr zu schaffen und Gottes Gunst zu erwirken.
Aber erkennbare Verbesserungen bleiben lange Zeit aus. Es scheint, als versage der Himmel seinen Segen zu allem, was die Menschen aufbauen.
Beinahe mit Gewalt wollen die Menschen ein Heil erzwingen, das sich durch Fasten und Beten nicht einstellen will.

4 Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll. (…)
6 Ist nicht das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!

7 Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!
8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen.

9 Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten.

Sich selbst und Vorhaben öffnen, das ehrgeizige Tun loslassen, teilen und freigeben – dann wird es hell, dann dämmert der Morgen. In kleinen Schritten, in persönlicher Zuwendung in gerechtem Ausgleich, mit solidarischem Handeln gegenüber dem Nächsten und mit Vertrauen auf Gott, dann wird das Leben gedeihen und die Seelen gesund.

Wieviel Untaten und katastrophale Situationen wären und würden so gar nicht geschehen, in der Welt, unserem Land, im Nachbarort und in unserem persönlichen Leben.

III.

1 Rufe laut, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden!

Die Worte des Propheten schallen wie eine Posaune, damals und heute, hinein in die Erinnerungen an jene furchtbaren Übergriffe vor unserer Haustür im letzten und vorletzten Jahr;
hinein in den Wettkampf um die Corona-Impfung, in dem sich die 10 reichsten Länder der Erde 75% der Impfdosen gesichert haben, und in das Gerangel, welche Menschen zuerst geimpft werden sollen;

hinein in die Welt, in der die Menschen in den vielen Flüchtlingscamps anderen zu viel werden und aus dem Blick geraten;
hinein in das Leben um uns herum, in dem Leute verstrickt sind in sich selbst, ihre Ängste, blinde Wut, Ausweglosigkeiten;

hinein in das eigene Denken und Handeln, die persönlichen Beziehungen, die angestrebten Ziele, die Besorgnisse und Kränkungen.
Diese prophetischen Worte verändern nichts von allein, sie können aber aufrütteln, Perspektive geben und ermutigen.

An uns liegt es, sie zu leben und weiterzusagen. Nicht alles werden wir abwenden oder verändern können, doch jedes Mal, wo Zuwendung geschieht, wird Leben gerettet oder geweckt.

In Hanau sei durch die Teilnahme und das Interesse ein ganz neues Zusammen- gehörigkeitsgefühl der christlichen und muslimischen Gemeinden gewachsen, so erzählte der dortige Dekan.
Die Volkmarser sind ist noch einmal mehr zusammengerückt seit letztem Rosenmontag. Das Attentat von Istha hat aufgerüttelt und die Initiative „Offen für Vielfalt – Geschlossen gegen Ausgrenzung“ auf den Weg gebracht, ein regionaler Zusammenschluss von Organisationen, Vereinen, Unternehmen und auch unserer Landeskirche, die sich in Kassel und Nordhessen für Vielfalt in all ihren Dimensionen sowie gegen jegliche Ausgrenzung von Menschen in der Gesellschaft und Arbeitswelt einsetzen.

Das alles macht Hoffnung, dass sich die prophetischen Worte bewahrheiten.
Daraus zu leben, „wird ein Leben lang nicht zu Ende sein“, sagt der ehemalige Berliner Bischof und Ratsvorsitzende der EKD Wolfgang Huber, „aber auf Gottes Wort zu hören, heißt, auf dem Weg der Begegnung mit Gott zu bleiben – und zwar nicht allein, sondern gemeinsam mit anderen.
Diesen Weg können wir gehen, weil er unter Gottes Segen steht: Du wirst rufen und Gott wird antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich!“1 Amen

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen!

1 Vgl. W. Huber: Predigt im Gottesdienst am Sonntag Estomihi im Berliner Dom (Jesaja 58,1-9a), 03.02.2008